Fiat X1/9

Ab durch die Mitte

Klaus Westrup erinnert sich an den Fiat X 1/9. Dem kompakten Mittelmotorsportwagen wurde von Nuccio Bertone eine zeitlose Karosserie auf den Leib geschneidert.

Lancia Beta Montecarlo, Fiat Bertone X 1/9, Fahrerbicht, MKL0616 Foto: Sabine Hofmann 28 Bilder

Sommer 1973, Cabrios sind noch nicht so verbreitet wie heute, man erlebt sie als die wahren Exoten des Auto-Alltags. Fast sechs Jahre lang hat Fiat seinen 850 Spider gebaut, ein reizendes kleines Offen-Auto, das insgesamt 140.000 Käufer findet. Nun steht der Nachfolger bereit, formal und auch maschinell eine ganze Klasse darüber liegend und von der Konzeption her etwas völlig Anderes. Während das niedliche 850 Coupé und der winzige 850 Spider Heckmotor-Autos sind, vertritt der neue Fiat X 1/9 die rare Mittelmotor-Liga. Der 1,3 Liter große und 75 PS starke Vierzylinder arbeitet quer eingebaut vor der Hinterachse.

Der Fiat X 1/9 ist so kurz wie eine Ente

Formal sind Mittelmotor-Sportwagen schwer in den Griff zu kriegen, denn das klassische Sportwagen-Ideal sieht bis zum heutigen Tag eine lange Schnauze, eine kurze Kabine und ein Stummelheck vor. Nun ist alles anders; eine lange Motorhaube wird nicht gebraucht, im Übrigen ist der neue Sportwagen nicht länger als ein Deux Chevaux - auch dies vom Grundsatz her nicht unbedingt eine günstige Basis für eine ansehnliche Silhouette. Wie üblich bei Fiat wird Nuccio Bertone mit der Formgebung beauftragt, und erwartungsgemäß kann sich das Ergebnis sehen lassen. Die Linienführung beim Fiat X 1/9 zeigt einen betont eigenwilligen optischen Auftritt, nämlich eine ausgeprägte Keilform, die auch kein anderer Mittelmotor-Sportwagen vorzuweisen hat.

Der Keil auf knapper Grundfläche ist nicht die einzige Besonderheit, denn im Gegensatz zu seinem Vorgänger trägt der Fiat X 1/9 ein fest arretierbares Kunststoffdach, das mit zwei Schnappverschlüssen oberhalb der Windschutzscheibe geöffnet und im vorderen Kofferabteil verstaut werden kann. Man muss ein bisschen Zeit einplanen für diese Prozedur - das Dach ist nicht gerade federleicht, und es erfordert auch einige Übung, es reibungslos im Wagenbug zu platzieren. Doch dann hat man ihn, den offenen Spider.

"Frisur schonender Schiebedach-Effekt"

Der Himmel lacht, und wahrscheinlich lacht man sogar selbst. Denn die Möglichkeiten, in dem Fiat X 1/9 die eindringenden Luftströme zu dirigieren, gehen gegen unendlich. Wer das Dach offen hat und die Seitenscheiben hochgekurbelt, bleibt von allen Verwirbelungen verschont - man könnte auch von einem Frisur schonenden Schiebedach-Effekt sprechen. Wer die Scheiben öffnet, gestaltet seinen eigenen Windkanal. Auch Orkan geht. Wer alles aufreißt, erlebt den Windjammer fast so intensiv wie in einem englischen Roadster.

Ein wenig Kraft für diese Erlebnisse braucht man natürlich auch, und die hat der Fiat X 1/9. Die 75 Pferdestärken stellen sich zwar erst bei 6.000 Touren ein, aber sie treffen auf gerade einmal 860 Kilogramm vollgetankt. Und so verspricht der rasant gezeichnete Keil nicht zu viel, läuft exakt 170 km/h schnell und erreicht Tempo 100 in nur 12,5 Sekunden. Selbst der im Hubraum genau vergleichbare Alfa Spider, nominal exakt 12 PS stärker, fährt beim Beschleunigen hinterher.

Dabei ist der Aufwand, den die Techniker bei ihrem 1300er getrieben haben, vergleichsweise gering. Es gibt nur eine zahnriemengetriebene Nockenwelle, Ein- und Auslass liegen ganz brav und bäuerlich auf einer Seite des Zylinderkopfs, die Ventilanordnung ist nicht V-förmig wie bei Hochleistungsmaschinen, sondern parallel. Bei den Beschleunigungsmessungen realisiert der kleine Vierzylinder mit dem Ultrakurzhub von nur 55 Millimeter beachtliche 7.000 Touren, störende Schwingungen sind ihm fremd. 10 Liter pro 100 Kilometer lässt sich der Fiat X 1/9 im Mittel die Testmühen kosten, damals ein Zeichen von Genügsamkeit.

Hecklastiger Übersteuerer

Die bei Mittelmotor-Sportwagen angestrebte ausgeglichene Gewichtsverteilung zwischen vorn und hinten kann der kleine Fiat X 1/9 dagegen nicht bieten. Der hinter der Fahrerkabine sitzende Motor sorgt fast für Heckmotor-Verhältnisse.

Nicht weniger als 500 Kilogramm lasten auf der Hinterachse, die Vorderachse trägt gerade einmal 360. So fällt es schon von den Papierwerten her schwer, an ein neutrales Fahrverhalten zu glauben, und das gibt es auch in der Praxis nicht. Der Fiat X 1/9 übersteuert eindeutig, doch der Übergang erfolgt weich und nicht abrupt und kann mit etwas Routine nicht nur ausgeglichen, sondern auch als sportive Verfeinerung erlebt werden.

Der Geradeauslauf, bei solcherart konzipierten Autos ein eher heikler Punkt, ist beim Fiat X 1/9 dagegen von verblüffender Stabilität. Auf der Autobahn zieht man auch bei hohem Tempo wie an der Schnur gezogen seine Bahn, das Motorgeräusch ist zwar stets präsent, aber niemals lästig. Zusammen mit einem Federungskomfort, der eindeutig über dem der klassischen kleinen Roadster jener Tage liegt, tritt sogar ein gar nicht erwartetes Fernreisevergnügen ins Visier. Viel mitnehmen kann man zwar nicht, größere Koffer passen überhaupt nicht in den X 1/9, aber er schluckt vorn und hinten eine Menge Kleinteile - "Gruscht", wie die Schwaben sagen. 216 Liter Volumen hat die Testabteilung nach der damaligen Norm ermittelt - für Sportwagen-Maßstäbe gar nicht so wenig.

Stilvolles Cockpit

Das Interieur des Fiat X 1/9 ist ganz und gar Sportwagen. Hinter dem hübsch gestylten kleinen Lenkrad informieren zwei große Instrumente über Tempo und Drehzahl, außerdem erfährt man etwas über Öldruck, Wassertemperatur und Tankinhalt. Dazu die üblichen Kontrollleuchten, eine macht sogar auf die gezogene Handbremse aufmerksam. Ein Wohlfühl-Ambiente, und das in einer Karosse, die ohne die für Cabriolets typischen Verwindungserscheinungen auskommt.

Es soll nicht verschwiegen werden, dass die Wohlgefühle auch zu einer kurzzeitigen privaten Zweckentfremdung des Testwagens geführt haben. Der Fiat X 1/9 wird Hochzeitskutsche für ein zuvor rasch und formlos getrautes junges Paar. Sein Reiseziel an einem warmen Augustnachmittag 1973 ist das 55 Kilometer entfernte Heidelberg, jene Romantik-Zentrale, in der sich schon manch anderes Herz verloren hat. Die Ehe hat durchgehalten. Und der flotte Fiat? Keiner weiß es.