Mercedes 200 D Strichacht-Rückkauf

Strichacht als Zeitmaschine

Enzo Lucà wollte seinem Vater dessen erstes Auto zurückkaufen, einen Mercedes 200 D Automatik – und hat es tatsächlich gefunden.

Mercedes 200 D Automatik, Seitenansicht Foto: Hardy Mutschler 11 Bilder

Es soll ja Menschen geben, die über genügend Mittel, Platz und Eigensinn verfügen, weshalb sie ein einmal erworbenes Automobil niemals wieder veräußern. Das mag einem zwar mitunter Ärger mit dem Rest der Familie einhandeln, schützt aber andererseits davor, dass man einem möglicherweise vorschnell abgegebenen Fahrzeug jahrelang hinterhertrauert - die Klage, "Den hätte ich nie verkaufen dürfen ...", gehört nicht von ungefähr zu den meistgehörten Sätzen im Oldtimer- und Youngtimer-Geschäft.

Im Strichacht groß geworden

Auch Enzo Lucà war der wohlbekannte Spruch seit dem 11. Oktober 2000 nicht fremd - dem Tag, an dem der Sohn italienischer Einwanderer den Mercedes-Benz 200 D Automatik seines Vaters verkaufte, der längst ein neues Auto besaß. "Ich habe gleich gemerkt, dass das keine gute Idee war", meint der 45-Jährige, "das stellt man immer dann fest, wenn man irgendwo einem anderen Strichacht begegnet."

Dann nämlich, so Lucà, erinnere man sich daran, was man mit dem Wagen alles erlebt hat, wo man hingefahren ist, und wer alles auf dem Beifahrersitz saß: Das Auto als Zeitmaschine, als Bewahrer von Erinnerungen, das stets bereitsteht, das Gedächtnis durch Hineinsetzen und Einatmen des altvertrauten Geruchs wieder aufzufrischen; bei stärkerem Gedächtnisverlust hilft zuverlässig eine längere Fahrt. "In dem Strichacht bin ich groß geworden, habe erste Fahrten unternommen und bin damit in den Urlaub gefahren", erzählt Lucà und ergänzt: "Eigentlich hatten wir den Mercedes schon so lange, da hätten wir ihn auch weiter durchbringen können."

Erstzulassung 30. August 1972

Tatsächlich befand sich der Mercedes Strichacht zum Zeitpunkt des Verkaufs bereits seit mehr als 28 Jahren im Besitz der Familie Lucà, die in Singen am Bodensee ein Eiscafé betreibt. "Ich habe den Wagen 1972 bei der Mercedes-Niederlassung Bölle hier in Singen neu bestellt, es war mein erstes eigenes Auto, am 30. August wurde er zugelassen", erinnert sich Enzos Vater Felice Antonio Lucà. Ein Diesel sollte es sein, wegen der Benzinpreise: "Ein Liter Diesel kostete damals 56 Pfennig."

Vor allem in Italien war der Preisunterschied zwischen Diesel und Benzin damals gewaltig, und schließlich stand für Vater Lucà zu Beginn der Siebziger noch die Idee im Raum, eines Tages wieder nach Gioiosa Ionica nach Kalabrien zurückzukehren - und auf jeden Fall dort die Urlaube zu verbringen. Abgesehen von den Urlaubsfahrten wurde der Mercedes 200 D ansonsten meist nur auf Kurzstrecken bewegt, was der Dieselmotor bei Kilometerstand 90.000 mit beleidigtem Exitus quittierte. Als Ersatz wurde ein 240er-Tauschmotor mit 65 PS verbaut, der dem Wagen mit seinen zehn Mehr-PS zu spürbar mehr Dynamik verhalf.

In Papenburg wartet die Überraschung

Diese schätzten wohl auch die neuen Besitzer des Diesel; nach dem Verkauf 2000 in Singen legte der Mercedes eine beeindruckende Reise durch die Republik zurück: Zunächst nach Viersen, anschließend nach Nettetal und über Münster und Bielefeld schließlich nach Papenburg. Enzo Lucà wiederum, zu dessen Fuhrpark auch ein Fiat 500, ein Lancia Flavia Coupé sowie eine Vespa PX gehören, saß in seiner Wahlheimat München, wo er als Pressesprecher für den TÜV Süd tätig ist, vermisste den treuen alten Benz - und beschloss, seinem Vater genau so einen Mercedes 200 D Automatik in Ahorngelb wieder zu besorgen.

Die Suche führte über die üblichen Verkaufsportale zu den üblichen Probefahrten und Enttäuschungen, bis Lucà in - genau - Papenburg einen Mercedes Strichacht entdeckte, der von der Papierform her recht vielversprechend aussah. Schließlich machte er sich auf den Weg nach Norden - und traute seinen Augen kaum. Alles stimmte: 200 D mit eingetragenem 240er-Motor, Automatik, Servolenkung, H4-Scheinwerfer. Ein Blick in den alten Fahrzeugbrief aus Pappe mit der Fahrgestellnummer 115 615 12 145 102 brachte Gewissheit: "Da stand als Erstbesitzer der Name meines Vaters", sagt Enzo Lucà.

Verhandlungsspielraum gibt es nach einer solchen Entdeckung naturgemäß nicht mehr. Lucà musste das Auto unbedingt wiederhaben und überführte es freudestrahlend nach Süddeutschland.

Kleinere Restaurierungsarbeiten

Allerdings waren die Jahre unter fremden Fahrern nicht spurlos an dem Strichacht vorübergegangen, und so wartete einige Arbeit auf Enzo Lucà: ein paar Karosseriearbeiten hier, ein wenig Lackieren dort, ein paar Fahrwerksteile, etwas Kosmetik. Keine vollständige Restaurierung, sondern substanzerhaltende Maßnahmen, die den Mercedes 200 D in einen ordentlichen Gebrauchszustand mit leichter Patina überführten.

In diesem Zustand präsentierte Enzo Lucà den ehemaligen Familienwagen im Mai 2012 seinen völlig verblüfften Eltern. Noch mehr als sein Vater war seine Mutter völlig aus dem Häuschen: "Als das Auto wieder da war, habe ich mich so gefreut, dass ich es sogar geküsst habe", sagt Rosa Lucà, "der Mercedes war für uns immer wie ein Familienmitglied."

Schönwetterauto mit H-Kennzeichen

Seither steht der Mercedes 200 D wieder wie früher in der Tiefgarage unter dem Eiscafé Portofino mitten in Singen und trägt jetzt stolz ein H-Kennzeichen, zugelassen ist er nun auf den Sohn des Hauses. Der 240er-Motor springt nach kurzem Vorglühen zuverlässig an und schiebt den Eineinhalbtonner trotzig die steile Auffahrt hinauf ins Freie. Das geschieht heute natürlich nur noch an besonders schönen, sonnigen Tagen, und gelegentlich führt auch Enzo Lucà das Familienmitglied 200 D aus, um seine Erinnerungen aufzufrischen.

Dann rollt er gemächlich durch Singen, beispielsweise vorbei an seiner alten Schule oder an der Fahrschule, in der er vor 27 Jahren für die Fahrerlaubnis gebüffelt hat. Oder er steuert mit dem großen Lenkrad den Mercedes Strichacht hinunter an den Bodensee zu einer besonderen Stelle, an der man mit dem Auto ganz nah ans Wasser herankommt.

Meist nimmt er auf den Ausflügen im Mercedes auch seine Familie mit, schließlich sollen seine Söhne später einmal die Familientradition weiterführen und den Mercedes 200 D bewahren. Die beiden lieben diese Ausflüge: Zum einen ist auf der großen Rückbank des Strichacht reichlich Platz für groben Unfug - vor allem aber gibt es anschließend bei den Großeltern leckere Pizza und Eis, bis beide ermattet abwinken.