60 Jahre Giulietta

Das große Los für Alfa

Sie war das erste Modell, das man in beträchtlicher Stückzahl baute. Mit ihr erfand sich Alfa Romeo vor 60 Jahren neu und blieb sich dennoch treu. Aber nicht nur deshalb ist die Giulietta heute so aktuell wie 1954. Ein Ständchen zum runden Geburtstag.

Alfa Romeo Giulietta, Modelle, Triumphbogen Foto: Arturo Rivas 42 Bilder

Der Hebel sieht aus wie ein flacher Haken. Rechts neben dem Lenkstock krümmt er sich ganz unscheinbar unter dem Armaturenbrett der Alfa Romeo Giulietta. Ein Zug an diesem Hebel, kurz nur, das reicht meistens, verändert die Welt – jedes Mal, zumindest für den, der zieht. Wie so oft ist es die kleine Geste, die Großes bewirkt. In diesem Fall ein Lächeln im Gesicht von Herrn Giorgetti. Er schließt seine Hände um den dünnen schwarzen Lenkradkranz, der steil vor ihm steht, hört auf diesen Motor, den er gerade gestartet hat, und lächelt immer noch. Er lächelt, weil er weiß, was ihn erwartet. Er lächelt, weil er weiß, wie es sich anfühlt, jetzt die Kupplung niederzutreten und mit der Rechten am dürren Hebel hinter dem Steuer in einer ruhigen Aufwärtsbewegung den ersten Gang einzulegen und zu fahren, zu fahren in einer Art, die so leicht ist wie dieses Auto selbst und so leicht auch wie die Farbe, die es trägt, ein helles Grün, Verde chiaro.

Giulietta ist eine Persönlichkeit von Auto

Es steht dem 1955er-Sprint so gut wie der drei Jahre jüngeren Alfa Romeo Giulietta Berlina von Herrn Mottini das satte Blau und dem 57 Jahre alten Spider von Herrn Massolo die Kombination aus rotem Leder und weiß lackiertem Blech. Wobei die Farbe am Ende doch nur Geschmackssache ist. Das Auto selbst ist es nicht. Dieses Auto ist zuallererst mal eine Herzensangelegenheit. Und zu allerletzt ebenfalls.

Man kann sich ihm nicht nähern als wäre es ein bloßer Gegenstand. Man kann es nicht bedienen als wäre es bloß ein Stück Metall. Und man kann die Alfa Romeo Giulietta nicht bewegen als wäre es bloß ein Fahrzeug. Es mag an dieser Front liegen, in der sich nichts anderes sehen lässt als ein Gesicht, das weniger durch Schönheit oder Extravaganz besticht als dass es einfach anrührt.

Immer wieder stellt sich mit der Alfa Romeo Giulietta dieses Gefühl ein, man begegne nicht einem Auto, sondern einer Person. Mehr noch: einer Persönlichkeit. Es mag die Technik sein, die mit zwei obenliegenden Nockenwellen begeistert, die Historie, die mit allen möglichen Erfolgen bei Targa Florio oder Mille Miglia beeindruckt. Aber es ist diese Persönlichkeit, die bewegt, und ihre Präsenz, die berührt. Das macht, noch bevor überhaupt eine Tür geöffnet oder der Motor gestartet ist, ihren besonderen Reiz, ihren Charme aus.

„Alfas Giulietta ist mit Geld eigentlich gar nicht zu bezahlen“

Herr Giorgetti kann sich diesem Charme nicht entziehen, und er will es auch gar nicht. Seine erste Alfa Romeo Giulietta kaufte er 1964. Da war er 18 und sie gerade zehn. Die Zweite folgte acht Jahre später und mit ihr eine Lektion: „Sage niemals einen Preis, wenn du dein Auto nicht verkaufen willst.“ Er hatte einen Preis gesagt, einen aberwitzigen, wie er fand, und war den Wagen los, weil der Käufer wohl schon damals ahnte, was Giorgetti dann auch begriff: „Alfas Giulietta ist mit Geld eigentlich gar nicht zu bezahlen.“

Das stimmte schon, als sie als Gebrauchtwagen noch billig zu haben war. „Den wirklichen Wert der Giulietta drückten die damaligen Preise so wenig aus wie es die heutigen tun,“ meint Marco Mottini, nachdem er seine Alfa Romeo Giulietta Berlina neben der Zierlichkeit des weiß-roten Spider von Giancarlo Massolo geparkt hat. Der sagt: „Ich wusste nur, dass ich einen offenen Alfa wollte, und das Gefühl brachte mich zur Giulietta.“

Triebwerk ist ein technisches Meisterstück

Ihrem Konstrukteur hätte es sehr gefallen, das zu hören. Es gäbe ihm recht. Zwar hatte er mit der gutmütig präzise zu lenkenden Alfa Romeo Giulietta und insbesondere mit deren famosem Motor, den Alfa Romeo im 164 noch nutzte, ein technisches Meisterstück abgeliefert. Immer noch kann der Vollaluminium-Vierzylinder formal so brillieren wie mit seinen unkomplizierten Umgangsformen, seinem kernigen Klang und seinem Leistungspotenzial, das die 50 PS der frühen Alfa Romeo Giulietta Berlina locker um das Dreifache übersteigt.

Doch war auch Orazio Satta Puligas Einstellung zur Alfa Romeo Giulietta nicht die des nüchternen, wenngleich genialen Ingenieurs gegenüber dem Gebrauchsgegenstand, den zu entwerfen nun mal sein Job war. Sein Enthusiasmus gleiche eher einer besonderen Krankheit, sagte der Mann, der von 1946 bis 1970 als Planer und Vizedirektor für Alfa Romeo arbeitete.

Genau erklären oder gar mit Begriffen der Logik beschreiben könne man das gar nicht. Denn es gehe da um etwas sehr Menschliches, etwas, das sich nicht mit dem Hirn allein fertigbringen lasse, sondern nur mit dem Herzen. Giuseppe Satta Puliga hat den Auszug einer Rede seines Vaters Orazio auf einen Zettel kopiert, denn er findet, dass man die tatsächliche Bedeutung der Alfa Romeo Giulietta anders nicht verstehen könne.

Die Giulietta-Lotterie

Mit seiner Alfa Romeo Giulietta Sprint der zweiten Generation ist Giuseppe Satta Puliga gleichsam als Ehrengast zu einem Treffen gekommen, um den runden Geburtstag des Autos zu feiern, mit dem sich Alfa Romeo vor 60 Jahren neu erfand. Alle sind ein bisschen rührselig, und Satta Puliga sogar ein bisschen mehr. „Die Giulietta hat für Alfa eine neue Ära begründet. Für mich persönlich ist sie wie eine Reliquie“, sagt er, „ein Schatz, weil sich so viele Erinnerungen damit verbinden.“ Allerdings hätte, was einst zur Neufindung des Hauses wurde, genauso gut zu dessen Untergang führen können. Denn um ein Haar wäre es mit der Giulietta nichts geworden.

Was war passiert? Die exquisite Ware, mit der Alfa Romeo sich bis dahin einen Namen gemacht hatte, Rennwagen und Luxusautos, konnten sich nach dem Krieg zu wenige leisten. Was Alfa bei allem Renommee fehlte, war ein Wagen für die gut situierte Mittelklasse, ein Modell, das Zahlen brachte.

Zwar war eine technische Basis dafür in Anlehnung an den 1900 von Orazio Satta Puliga entworfen worden. Doch um die Entwicklung abzuschließen und eine Serienproduktion anlaufen zu lassen, für die bei Alfa vieles umgestellt werden musste, hatte der damalige Eigner, der Staatskonzern Finmeccanica, nicht genug Kohle. Aber eine Idee: Wir geben eine Anleihe heraus, und damit die Leute das Ding auch fleißig kaufen, versprechen wir ihnen, dass sie bei einer Verlosung gewinnen können, was wir mit ihrem Geld bauen werden: die ersten Alfa Romeo Giulietta-Exemplare.

In letzter Minute

Doch obwohl mit den Schuldverschreibungen genug Geld zusammengekommen war, hinkte die Produktion der Alfa Romeo Giulietta weiter hinterher, weil man lärmende Resonanzschwingungen an der Karosserie der Limousine nicht in den Griff bekam. So rückte der Lotterietermin näher und näher, ohne dass es eine Alfa Romeo Giulietta für die Gewinner gegeben hätte.

Die Zeit drängte, als Alfas Generaldirektor Franco Quaroni schließlich einen gewagten Plan abnickte: Nuccio Bertone soll zusehen, dass sie ein Coupé der Giulietta auf die Räder stellen, mit dem wir unser Versprechen halten und die Lotterieteilnehmer bedienen können. Immerhin hatte Alfa selbst bereits kleine Gipsmodelle und Prototypen des Coupés, an denen sich Bertones Designer Franco Scaglione orientieren konnte, als er mit jedem weiteren schnörkellosen Strich eine Linie findet, die Alfa Romeo neu definieren wird. Gewagt war der Plan vor allem deshalb, weil man für die ganze Aktion nicht mehr als zehn Tage gehabt haben soll.

3.000 Vorbestellungen nach erster Präsentation

Mit der Alfa Romeo Giulietta Sprint zeichnete Scaglione ein schlichtes Auto, ein leises, ein zurückhaltendes auch. Es ist von beinahe zerbrechlich feiner Statur, aber auch von riesigem Format. Es ist die neuartige und leichte Interpretation der alten Größe, die Alfa Romeo damals brauchte und heute wieder bräuchte. Und es ist eine Rettung in letzter Minute, als das Coupé am 11. April 1954 einigen Journalisten und zehn Tage später auf dem Turiner Salon gezeigt wird. Vier Exemplare, lackiert wurden sie bei Ghia, bekommt man bis zur Deadline fertig, weitere zwölf bis zum Ende des Jahres. Allein in Turin aber hatten bereits 3.000 Kunden eine Giulietta Sprint vorbestellt.

Die Alfa Romeo Giulietta Berlina, ein Eigenentwurf von Alfa, und der bei Pininfarina gestaltete Spider debütieren erst im Folgejahr. Streng genommen müssen sie aufs Jubiläum also noch warten. Aber streng genommen müsste man der Giulietta auch zum runden Geburtstag gar kein Ständchen singen. Denn das kann sie selbst viel besser. Herr Giorgetti muss nur an dem flachen Haken unterm Armaturenbrett ziehen, dann fängt seine Giulietta Sprint an zu singen. So wie es Berlina und Spider ebenfalls können – als wäre jeder Tag mit ihnen ein Jubiläum, das man feiern müsste.