Audi 100 LS, VW 411 LE und VW K 70 L Fahrbericht

Konzern-Rivalen

Audi 100, VW 411 und der K 70 von NSU – dreimal Mittelklasse zur gleichen Zeit und dazu noch mit gleicher Leistung und zum gleichem Preis. Sie sind jedoch völlig verschiedene Charaktere.

Audi 100 LS, VW 411 LE, VW K 70 L, Frontansicht Foto: Karl-Heinz Augustin 33 Bilder

Heute beschert uns die schicksalhafte Artenvielfalt von damals drei charismatische Mittelklässler, die sich deutlich von konventioneller Opel- oder auch Ford-Technik unterscheiden. Der technische Aufwand von Audi 100, VW 411 und VW K 70 ist ungleich größer, die Fertigungskosten waren höher.

Umbruch der 60er beschert Volkswagen neue Modelle

Die populären Biedermänner von einst sind liebenswerte Exoten, die anderen Verkehrsteilnehmern den Kopf verdrehen. Schicksalhaft ist ihre Zeugung im wilden Umbruch der späten Sechziger. Auto Union kam zu Volkswagen und konnte als auferstandene Marke Audi mit nur einer Modellreihe nicht überleben, deshalb entstand 1968 der neue große Audi 100. NSU kam 1969 zu Audi mit einem fertig entwickelten Auto in der Pipeline. Es hieß K 70 und machte dem Audi 100 zu große Konkurrenz. Erst nach einem Reifejahr später entschloss sich die Konzernmutter, es zu adoptieren.

Das talentierte Frontantriebskind sollte den Technologiewandel in Wolfsburg einläuten. Nur schnell weg vom luftgekühlten Boxermotor im Heck – hin zu Passat, Golf und Scirocco. Ein sonniger Frühlingstag in Ingolstadt wird dank dieser kreativen Turbulenzen von einst zum Erlebnispark für Autofans, die das bürgerliche Trio noch aus dem Straßenbild der Siebziger kennen.

Erster Audi 100 ist breit und niedrig

Der Audi 100 ist damals wie heute der Sympathieträger schlechthin. Das mag daran liegen, dass es für ihn hier an der Donau ein Heimspiel ist. Doch das freundliche Marathon-Metallic betont vorteilhaft die gediegene Eleganz seiner Karosserie.

Die Proportionen des ersten Audi 100 stimmen. Breit und niedrig kommt er daher, mit einem gewinnenden Lächeln im Kühlergrill. Sein Motor grummelt bassig und kraftvoll, die Sitzposition hinter dem steilen großen Dreispeichenlenkrad passt wie angegossen. Man fühlt sich auf Anhieb geborgen, freundliche Farben, hochwertiges Holzfurnier, Sitze mit körperbetontem Profil. Die Übersicht ist großartig, der an sich nicht gerade kleine Wagen schrumpft im Verkehr scheinbar auf die Größe eines Golf der zweiten Generation.

Die Mittelschaltung arbeitet exakt und mit kurzen Wegen, die Lenkung fühlt sich etwas indirekt an, überträgt dafür aber keinerlei Antriebseinflüsse. Millimetergenau und gefühlvoll lässt sich der Wagen auch ohne Servounterstützung dirigieren. Der Audi 100 federt kommod und untersteuert sanft.

Der neue Audi ist ein großer Wurf

Schon nach wenigen Kilometern wird die Überlegenheit des ersten großen Audi in seiner Klasse deutlich, der es stets auf das Treppchen der auto motor und sport-Vergleichstests brachte, immer vor BMW und nur ganz knapp hinter Mercedes.

Unser 74er Modell hat schon die modernere Federbeinachse hinten, gestartet ist der Audi 100 mit der drehstabgefederten Rohr-Starrachse des kleineren Audi-Urmodells. Sein auf 85 PS gedrosselter Normalbenzin-Motor fühlt sich temperamentvoll und elastisch an. Er war auf Wunsch im LS erhältlich, der sonst für die 100-PS-Variante mit Zweistufenvergaser steht.

Ein Modelljahr später zieht der ebenfalls 85 PS starke 1,6-Liter-OHC-Motor aus dem Audi 80 GL in die schwächste Variante des Audi 100 ein. Dieses modernere Zahnriementriebwerk verzichtet jedoch auf einen Querstromkopf und wirkt optisch gegenüber dem einst von Daimler-Benz entwickelten Vollmetallklotz mager und blechern.

VW 411 fährt sich besser, als er aussieht

Fahrerwechsel zum VW 411 LE. Colorado heißt das wunderbare Rot-Metallic, das so schön mit der üppigen Chromzier des Nasenbärs kontrastiert. Vorurteilsbeladen setzt man sich in den Mittelklasse-VW. Seine hochbeinige, schmale Fastback-Kontur mit dem auffällig kurzen Radstand und den langen Überhängen folgt nicht gerade dem Schönheitsideal einer Limousine.

Den Autoliebhaber mag auch das versteckte Unterflur-Triebwerk des VW 411 LE stören, das unter Schläuchen und D-Jetronic-Rohren verborgen tief unten im Heck kauert, nur eine schmale Klappe erlaubt den Zugang. Einmal Platz genommen, erfreut sich der Fahrer an dem kuscheligen L-Ambiente mit Holzdekor und Samtsitzen. Anders als im Audi 100 sitzt man hoch im 411, die vordere Kofferraumhaube bestens im Blick und mit dem linken Radkasten auf gar zu enger Tuchfühlung.

Ein Schlüsseldreh und der bullig-sonore Klang des 1,7-Liter-Boxers – es gab den gleichen Motor auch im VW-Porsche 914 -, versöhnt einen mit der Welt und dem VW 411. Jetzt bekommt er die Chance, die er braucht – so ein Aschenputtel-411 LE ist erklärungsbedürftiger als der naturschöne Audi 100. Er will sich mitteilen, sich für das überdehnte Käfer-Konzept entschuldigen und versuchen, trotzdem ein guter Kumpel zu sein.

Therapiedialog mit dem Fahrer

Der Typ 4 ist ein VW mit ausgeprägter Selbstwert-Problematik, lange Zeit fühlte er sich wertlos – er war es auch. Doch im Therapiedialog mit dem Fahrer gewinnt der grundsolide verlässliche VW 411 LE mit jedem Kilometer. Der stets angenehme Boxer-Klang ist ein Schlüssel zum Herzen des 411-Zauderers. Die Leistungscharakteristik des Motors mit kräftigem Antritt aus dem Drehzahlkeller gefällt ebenso wie seine Drehfreude. Wunderbar die Handlichkeit des Hirschkäfers. Ein Wendekreis, wie er kleiner nicht sein könnte, ein Verdienst der modernen McPherson-Federbeinachse, die ganz nebenbei auch den großen Frontkofferraum möglich macht.
 
Der VW 411 LE bemüht sich redlich, alle typischen Käfer-Nachteile mit hochkarätiger Ingenieursleistung zu kompensieren. Seine Schaltpräzision ist beachtlich, die gefährliche Übersteuerneigung gewöhnt er sich mit einer aufwendigen Schräglenkerachse ab, seine selbsttragende Karosserie setzte Maßstäbe bei der Aufprallsicherheit.

VW K 70 ist der Sportlichste unter den Biedermännern

Der gleiche solide Türenklang, die gleiche Sitzgarnitur, das gleiche Markenzeichen. Damit sind die Gemeinsamkeiten von VW K 70 und 411 LE schon erschöpft. Verschiedener können Markengeschwister nicht sein. Auch zum Frontantriebs-Glaubensbruder Audi 100 ist der K 70 weiter entfernt, als man denkt. Er ist der Sportlichste unter den Biedermännern.

Die Motorhaube vorn angeschlagen wie bei einem BMW, die Linie straff und asketisch. Das Motorgeräusch hell, kernig und zum freudigen Hochdrehen animierend. Die Lenkung für einen Fronttriebler verdammt direkt, aber dabei ziemlich schwergängig. Die Bremsen giftig zupackend. Der VW K 70 in Kasanrot ist trotz bescheidener 75 PS, die sich aber eher nach 90 anfühlen, das mit Abstand fahraktivste Auto im Trio.

Fahrfreude wie im Nullzwei

Der hoch effiziente, sparsame OHC-Vierzylinder des VW K 70 sitzt traktionsfreudig direkt über der Vorderachse, sein Hubraummanko gleicht er mit überragender Drehfreude aus. Wäre die indifferente Schaltung doch nur ein wenig exakter, dann könnte so ein unscheinbarer, lange verleugneter K 70 in der Fahrfreude einem BMW Nullzwei Paroli bieten.

In schnellen Kurven schiebt der VW K 70 weit weniger über die Vorderräder als der Audi 100. Sein Fahrwerk ist für einen Fronttriebler, der sich hinten oft mit einer leichten Starrachse begnügt, Weltklasse – es stammt vom großen Bruder Ro 80.

Was dem ungestümen K 70 im Vergleich zum abgerundeten Audi 100 fehlt, sind Reife und Feinschliff, er konnte die besseren technischen Anlagen nicht nutzen. Der einst tapfer auf verlorenem Posten kämpfende VW 411 hat den höchsten Kultfaktor.

Fazit von Motor Klassik-Redakteur Alf Cremers

Es fällt mir schwer, mich für einen der drei VW-Konzern-Mittelklässler zu entscheiden. Selbst besaß ich in den Achtzigern drei Audi 100 und zwei VW K 70. Einen VW 412 LS mit nur 30.000 km verpasste ich knapp.

Keine Frage, der Audi 100 ist der Schönste und Harmonischste. Er wirkt gediegen, sein Motor ist elastisch und hat einen prima Sound, die Lenkung und das Fahrwerk überzeugen.

Der VW 411 LE leidet unter den missglückten Proportionen der Karosserie. 2,50 m sind zu wenig Radstand, die vorderen Radkästen ragen weit in den Innenraum. Aber seine Handlichkeit ist Spitze, Klang und Kraft des Boxers machen Spaß.

Am Ende eroberte der VW K 70 mein Herz. Er ist das fortschrittlichste Auto der drei, OHC-Vierzylinder in schöner Optik, Schräglenkerachse, sachliche Karosserie im Designer-Look mit viel Glas, dazu ein feines Fahrverhalten. Der K 70 ist es!