BMW 1800 und Mercedes 200 Fahrbericht

Klassentreffen von 60er-Jahre-Klassikern

Zwei Typen von damals. In den Sechzigern haben sie Abitur gemacht. Der eine: Klassenprimus aus bestem Hause, aber völlig unsportlich. Der andere: ein athletischer Draufgänger aus verarmtem Adel, sonst nur Durchschnittsnoten. Wiedersehen nach einer Ewigkeit.

BMW 1800, Mercedes 200, Frontansicht Foto: Karl-Heinz Augustin 14 Bilder

Der Preis war nicht das Thema, eher lag es am Charakter. Anfang 1968 kosteten Mercedes 200 und BMW 1800 fast gleich viel, aber nur wenige Kunden kamen bei der Kaufentscheidung in ersthafte Bedrängnis. Beide Wagen waren eindeutig positioniert, Überschneidungen gab es kaum. Der BMW gilt als sportlich, hart, kompakt, ein moderater Übersteuerer für ambitionierte, eher junge Fahrer. Der Mercedes wirkt gediegen, groß, solide, gesetzt, auch etwas behäbig und gilt als Symbol für sozialen Aufstieg. Selbstbewusste 10.715 Mark rief BMW für das Einstiegsmodell in die Neue Klasse auf. Daimler-Benz verlangte wohlfeile 11.000 Mark für die Kleine Flosse.

Mercedes-Passagiere genießen fürstliches Raumangebot

Damit bot der repräsentative Mittelklasse-Mercedes, der seinerzeit sogar die prestigeträchtige und geräumige Einheitskarosserie des S-Klasse trug, viel mehr Auto fürs Geld. Nur der Vorderwagen war gegenüber der Sechszylinder-Sonderklasse namens 230 S um 14,5 cm verkürzt. Die Passagiere genießen im Mercedes 200 also ein fürstliches Raumangebot, der Kofferraum mit zwei Reserveradmulden bringt es auf Kingsize-Format. Das Aussehen des BMW 1800 wird, verglichen mit dem teutonischen Riesen Mercedes, von einer schmalen, fast italienisch-grazilen Silhouette geprägt. Kein Wunder, Giovanni Michelotti zeichnete den Urtyp der Neuen Klasse mit dem später markenprägenden dynamischen Gesicht.

BMW-Chefstilist Wilhelm Hofmeister, von dem der legendäre Knick an der C-Säule stammt, verfeinerte lediglich in Details und machte den vorher etwas überzeichneten Entwurf gefälliger. Doch nicht nur bei der schieren Größe punktet der Mercedes 200. Immerhin gibt es zum fast gleichen Preis einen ausgewachsenen Zweiliter-Motor mit fünf PS mehr Leistung, der mit seinen zwei Vergasern fast in die BMW-Domäne effizienter Leistungssteigerung vordringt.

Als BMW noch eine Nischenmarke war

Der vom Hubraum her passendere BMW 2000 mit 100 PS wäre wiederum 800 Mark teurer gewesen als der Mercedes 200. BMW fuhr damals als selbst ernannte Nischenmarke bedeutend geringere Stückzahlen als Mercedes. Die Neue Klasse verkaufte, grob gerechnet, nur halb so viel wie die Kleine Flosse, das wirkte sich in der Kalkulation negativ aus. Doch vor allem hatte der technische Aufwand seinen Preis.

Schließlich sollte der lang ersehnte Mittelwagen ein Hoffnungsträger und Erfolgsmodell werden, der BMW endlich aus der Krise hilft, und dafür musste er Aufregendes bieten. Der moderne OHC-Vierzylinder mit oben liegender Nockenwelle, optimierter Brennraumform und Querstromkopf feierte 1962 im Neue-Klasse-Urtyp BMW 1500 Premiere und galt als richtungsweisend. Die aufwendige Schräglenkerachse, schon in den Typen 600 und 700 ausprobiert, harmonierte perfekt mit der neuartigen vorderen McPherson-Federbeinkonstruktion und begründete das populäre BMW-Idealbild bester Straßenlage.

Die kleine Mercedes-Heckflosse zeigt sich technisch weit weniger mutig. Sie erbte vom Ponton-Vorgänger den OHC-Vierzylinder mit den charakteristischen Schlepphebeln zur Ventilbetätigung. Er ist nicht besonders sparsam, aber laufruhig, elastisch und langlebig. Die Doppelquerlenker-Vorderachse und die hintere Eingelenk-Pendelachse des Mercedes 200 gehören ebenfalls zur traditionellen Baukasten-Rezeptur von Daimler-Benz. Sie wurde für die Sechzigerjahre nur im Detail verfeinert, erst der Strichacht von 1968 wagte die kleine Schräglenker-Revolution.

Der Reiz der Trapezform

BMW 1800 und Mercedes 200 interpretieren auf unterschiedliche Art die damals moderne Trapezform mit niedriger Gürtellinie und geradliniger Silhouette. Auch Peugeot 404 oder Fiat 1800 sind typische Vertreter dieser attraktiven Auto-Mode, die sich gerne in Heckflossen, Panoramascheiben und feinen Sicken auslebt.

Die von Mercedes-Stilist Friedrich Geiger maßgeblich entworfene Einheitskarosserie steht vor allem für Raumkomfort, Übersichtlichkeit und hohe Unfallsicherheit. Nebenbei ist sie auch noch unerhört solide gebaut. Ihre stabilitätsfördernden Hohlräume entpuppten sich sechs Salzwinter später als üble Rostfallen, aber in Sachen Korrosion war auch der Mittelklasse-BMW 1800 kein Kind von Traurigkeit.

Stilistisch wirkt der BMW 1800 viel sachlicher und moderner, Front- und Heckscheibe sind nur noch leicht um die Ecken gebogen, Heckflossen gibt es keine, und die positiv gepfeilte Front findet ihr Pendant im parallel ausgerichteten Heck. Außerdem rollte er auf erwachsenen 14-Zoll-Rädern, während die 13-Zöller des Mercedes 200 in der massigen Karosserie mickrig wirken.

Zwei Temperamente

Typisch für den BMW 1800 ist die umlaufende Zierleiste à la Chevrolet Corvair, Motor- und Kofferrraumhaube decken Kotflügel und Seitenteile oben ab. Das sieht kurios aus, wenn beide offenstehen. Vor allem hinten, wenn der Deckel tief bis zur Stoßstange öffnet. Die niedrige Ladekante, BMW hat sie erfunden und die Tankklappe herrlich ins Design integriert.

Das Klassentreffen der so unterschiedlich gelagerten Rivalen findet in Wasserburg am Inn statt. Die malerische Kulisse hat nostalgisches Flair. Rund um die Innschleife gibt es mitten in einer hügeligen Landschaft kurvenreiche schmale Straßen, die zum ausgiebigen Probefahren einladen.

Der erste Kandidat ist der BMW 1800, der auf Anhieb wie maßgeschneidert passt. Die Sitzposition hinter dem dünnen großen Lenkrad ist hoch, die Übersichtlichkeit bestens, alle Bedienungselemente erklären sich von selbst. An diesem kühlen Novembertag braucht der weiß-blaue Jahrhundert-Vierzylinder mit dem markant breiten Kopf noch ein wenig Choke-Unterstützung, bevor er mit typisch kernigem Klang in eine leicht erhöhte Leerlaufdrehzahl fällt.

BMW mit direkter Lenkung und präziser Schaltung

Die Lenkung des BMW 1800 fühlt sich wohltuend direkt an, die im Unterschied zum Nullzwei hängenden Pedale sind an der richtigen Stelle, und die präzise Mittelschaltung operiert mit erfreulich kurzen Wegen. Nach einer Viertelstunde hat der Motor seine Betriebstemperatur erreicht, er verlangt intuitiv nach forscherer Gangart, hängt gut am Gas, klingt kerniger, ohne je lästig zu fallen.

Einen Drehzahlmesser vermisst man im BMW 1800 schmerzlich, so übermütig eilt die Tachonadel beim Gasgeben nach oben. Große Freude macht es, die Gänge zwei und drei auszudrehen, der 90 PS starke, kerngesund konstruierte Motor hat mit den 1.100 Kilo Wagengewicht leichtes Spiel. Aber er kann auch schaltfaul, sein Durchzugsvermögen aus dem Drehzahlkeller ist beträchtlich, obwohl man ihm die latente Langhubigkeit aberzogen hat. Dieser späte 1800 hat schon Block und Kolben des 2000 und den geringeren Hub der 1600er-Kurbelwelle. An einer Bushaltestelle tauschen wir die Autos.

In der Kleinen Flosse beeindruckt die Tiefe des Raumes

Der Mercedes 200 lädt seinen Fahrer geradezu ein, auf dem bereiten Vordersitz Platz zu nehmen, beim BMW 1800 ist der erste Eindruck Übersichtlicheit, bei der Kleinen Flosse beeindruckt die Tiefe des Raumes. Fast verloren fühlt man sich hinter dem riesigen elfenbeinfarbenen Lenkrad mit dem verchromten Hupring. Dahinter lugt aus der Cinemascope-Instrumententafel das Fieberthermometer. Jener als modisch und kurzlebig verschriene Hochkanttacho, der eigentlich ein großes Kombi-Instrument ist, das auch noch die Anzeigen für Tank, Temperatur und Öldruck beheimatet.

Der Motor des Mercedes 200 erwacht mit heiserem Klang, den Choke braucht er jetzt nicht mehr. Vor einem tut sich eine imposant-gerundete Motorhauben-Landschaft auf, ganz weit vorn thront der Stern noch auf einem Sockel, er ist gleichermaßen Schutzengel auf allen Straßen und glänzender Navigator, wenn es später in der Altstadt am Inn eng wird.

Sofort stellt sich dort Geborgenheit ein, wo im BMW 1800 die Herausforderung lockt. Alles wirkt tief entspannt. Fahren in Slow Motion, behutsame akkurate Gangwechsel mit entschleunigender Lenkradschaltung. Das Lenken erfolgt im Mercedes 200 bei Langsamfahrt mit geradezu manierierter Bedeutungsschwere, als steuere man einen Mercedes-Langhauber-Lkw der Klasse 2624. Ein Teil vom 600 steckt eben auch in der Kleinen Flosse.

Mercedes-Vierzylinder hängt gut am Gas

Man folgt gelassen dem Stern mit dem schweren Wagen, doch dann, kurz vor dem mittleren Drehzahlbereich, legt sich der Zweivergasermotor für die Wagengröße spürbar ins Zeug. Auch der zivil konstruierte Mercedes-Vierzylinder hängt gut am Gas und zieht kräftig aus dem unteren Drehzahlbereich, das Temperament fühlt sich jedoch deutlich milder an als im BMW 1800. 200 Kilo Mehrgewicht im Mercedes 200 sedieren nun mal.

Beide Wagen sind recht kurz übersetzt, über 100 km/h wird es recht laut, der BMW 1800 hält sich da noch mehr zurück als der stets angestrengter wirkende Mercedes. Dessen antiquierte Eingelenk-Pendelachse sorgt für deutlich mehr Fahrkomfort, der BMW wirkt auf schlechten Straße stets etwas trocken bis stuckerig. Der Mercedes 200 rollt samtig ab, die spur- und sturzlabile Pendelachse hat allerdings im Kurvengrenzbereich und bei scharfem Bremsen die unangenehme Eigenschaft, hinten einzuknicken. Der Normalfahrer kommt wohl nie in solch eine Situation, sonst wäre jeder klassische Mercedes ein Sicherheitsrisiko.

Dank Fahrwerk der Pagode reichlich Leistungsreserven

Die Pagode hat bis auf die breitere Spur das gleiche Fahrwerk wie die Kleine Flosse, die Leistungsreserve liegt also bei mindestens 170 PS. Die Schräglenkerachse des BMW 1800 ist über jeden Zweifel erhaben, sportliche Fahrer schätzen die leichte Übersteuerneigung. Sie stellt sich in sehr schnell gefahrenen Kurven ein und erfordert instinktives Gegenlenken. Motor und Fahrwerk des BMW sind den Aggregaten des Mercedes um zehn Jahre voraus. Das spielerische Handling des BMW 1800 macht ihn noch sympathischer, als es die Form und der funktionell, aber dennoch gediegen gestaltete Innenraum tun. Dieser späte 1800 aus dem Baujahr 1970 zeigt auch im Karosseriebau eine solide Reife.

Die kompakte Karosserie bietet Platz genug für vier, der Kofferraum ist beachtlich. Der Mercedes 200 zelebriert dagegen bürgerliche Opulenz. Bandtacho, Lenkradschaltung, üppige Chromzier und die offiziell Peilstege genannten Heckflossen machen den 200 modisch, aber nicht zeitlos. In einem Vergleichstest bliebe der Musterknabe mit dem Stern Klassensieger, weil er in vielen messbaren Dingen dem BMW 1800 überlegen ist. Dessen Talente sind weniger breit gestreut, aber intensiver. Die Neue Klasse hat den BMW-Slogan „Aus Freude am Fahren“ schließlich geprägt.

Fazit von Motor Klassik-Redakteur Alf Cremers

Vielleicht liegt es an der Überdosis Mercedes, die ich mir selbst gerade verabreiche, dass mir die Neue Klasse besser gefällt als die Kleine Flosse. Der BMW 1800 ist tatsächlich die Urquelle, aus der die Freude am Fahren sprudelt, sie bietet außerdem die Behaglichkeit einer kommoden Limousine.

Der Mercedes 200 strahlt für mich zu viel Biedermeier aus, er ist riesig, behäbig und ursolide. Eben der gute Stern auf allen Straßen, der einen bis an Ende der Welt trägt. Aber wo bleibt die Leidenschaft?