Chrysler New Yorker Fahrbericht

Die längste Heckflosse der Welt

Der New Yorker stellt seit 1938 das Topmodell der großen Chrysler-Limousinen. Designer Virgil Exner zog 1961 noch einmal alle Register und schuf einen futuristisch geformten Düsenjet für die Familie. Anna Baumgartner erlag den erotischen Reizen des großen Amerikaners.

Chrysler New Yorker Foto: Rossen Gargolov 14 Bilder

Der Chrysler New Yorker reagiert sofort auf das erste, sanfte Antippen des Gaspedals - Wir fahren, nein: Wir düsen ab. Und weil er dabei hinten in die Knie geht, unterstreicht er den fulminanten Antritt, der ja auch von einem Düsenjet erwartet wird.

Das schwebende Raketenauto des Virgil Max Exner

Dank 355 SAE-PS aus 6,75 Liter Hubraum bewegt sich der zwei Tonnen schwere Chrysler New Yorker fast so flink wie das Mammutweibchen Ellie aus dem Kinohit "Ice Age 2". Jeden Wechsel in der Quer- und Längsdynamik, die gelegentlich eine Kurve oder andere Verkehrsteilnehmer erzwingen, quittiert der rote Düsenjet mit drastischen Schräglagen. Jeden Stopp mit leichtem Schaukeln und Taumeln, als würden wir tatsächlich auf einem Luftkissen schweben.

Die Vision des Designers Virgil Max Exner von einem fliegenden, schwebenden Raketen-Automobil, das seinen Hubkolbenmotor und die unvermeidlichen vier Räder wie einen Geburtsfehler zu verstecken versucht, setzt sich im Innenraum des Chrysler New Yorker konsequent fort: Der Pilot glaubt in einer Designstudie für die Detroit Motor Show zu sitzen und nicht in einem - mit Verlaub - stinknormalen Serienauto: Das schlicht-dynamisch gestaltete Zweispeichen-Lenkrad sitzt auf einer silbrig glänzenden, halbkugelförmigen Ausbuchtung. Darauf befinden sich hinter durchsichtigem Plexiglas die Anzeigen für Tankinhalt und Wassertemperatur - und dahinter, in die Tiefe und Höhe gestaffelt, für Batteriespannung und Öldruck. Ganz im Hintergrund der kleinen, realen Drei-D-Show bildet die halbkreisförmige Tachometerskala eine Art Horizont. Die Skala endet rechts unten mit einer halb seitlich liegenden "200". Es sind, man glaubt es kaum, tatsächlich Stundenkilometer.

Bedienpanel wie bei einer Musicbox

Neben der futuristischen Instrumententrägerkugel warten links und rechts verchromte Tasten auf die Befehle des Piloten. Sie erinnern jedoch mehr an eine Musicbox als an einen Düsenjet; links für die Bedienung der Dreigangautomatik, rechts für die Klimaanlage und weiter unten für das Radio mit Stationstasten. Der Instrumententräger des Chrysler New Yorker ist mit hübschen Längssteppnähten gepolstert, falls es mal mit einer weichen Landung nicht so richtig klappen sollte. Darauf thront der nach links zum Fahrer gerückte Innenrückspiegel, dessen Format ziemlich genau dem ebenso großzügig gestalteten Bremspedal entspricht.

Fahrerin und Besitzerin Anna Baumgartner kommt mit den Flugeigenschaften ihres Düsenjets bestens zurecht und steuert den roten New Yorker zielsicher und energisch durch das hübsche, an der Aare gelegenen Städtchen Wangen mit der großartigen gedeckten Holzbrücke aus dem 15. Jahrhundert.

Auf dem nur einspurig befahrbaren Bauwerk und auch woanders lässt man dem New Yorker gern den Vortritt. "Obwohl hier in der Schweiz die Straßen nur selten einem amerikanischen Highway oder einer großzügig angelegten Vorstadtsiedlung entsprechen, habe ich mit meinem großen Chrysler kaum Probleme", berichtet die Inhaberin der Papeterie "Rägeboge". Tatsächlich gehen die anderen Automobilisten angesichts des roten Düsenjets spontan vom Gas und lassen ihm den Vortritt - um den Chrysler New Yorker dadurch einige Sekunden länger bestaunen zu können.

Virgil Exner ließ die längste Flosse wachsen

Sie bestaunen dann einen doppelten Rekordhalter: Gebaut von 1938 bis 1997, ist der Chrysler New Yorker mit 59 Jahren das am längsten, ohne Unterbrechungen produzierte US-Auto-Modell (die Corvette wird 2012 gleichziehen). Der zweite, auf ewig unereichbare Rekord gilt für den Jahrgang 1961. Dieser besitzt die längsten, jemals an einem Serienauto realisierten Heckflossen, die bereits bei den vorderen Dreiecksfenstern zu sprießen beginnen und keilförmig nach hinten anwachsen.

Designer Exner, der unter anderem beim Starkollegen Raymond Loewy (Studebaker, Lucky Strike- und Shell-Logo) in die Lehre ging, schuf dieses herausragende, konsequent und sauber gestaltete Design des Chrysler New Yorker. Die Chrysler-Modelle des Jahrgangs 1961 kennzeichnen neben den extrem langen Heckflossen auch die schräg anstatt bisher waagrecht angeordneten Doppelscheinwerfer, denen sich die Gestaltung der Frontpartie in all ihren Facetten unterzuordnen hat: die Form des Kühlergrills, die Blink- und Positionslichter, sogar die nach oben strebenden Stoßstangenenden.

Auch die Versionen Newport, Windsor und das Sportmodell 300 G sowie der optisch besonders im Innenraum stark modifizierte De Soto (ohne weitere Modellbezeichung) besaßen die langen Superflossen. Es war übrigens der letzte überhaupt gebaute De Soto. Die italienisch klingende Marke hatte 1929 Walter Percy Chrysler noch persönlich eingeführt.

Während der Chrysler New Yorker für den Jahrgang 1962 noch einmal die schräg gestellten Doppelscheinwerfer und die bereits vor den vorderen Radausschnitten beginnenden, seitlichen Chromzierleisten behalten durfte, blieben von den beiden Heckflossen nur noch mickrige Bügelfalten auf den Kotflügeln übrig. Designer Exner, der von 1955 bis 1961 bei Chrysler arbeitete, musste auf den geliebten, sogar im Windtunnel der Universität von Michigan getesteten Düsenjäger-Look verzichten: Chevrolet und Ford hatten bereits 1961 bei ihren Volumenmodellen dieses unbedingte Must have der vergangenen sechs bis acht Jahre abgesägt.

Chrysler verschwindet aus Europa - die Autos heißen fortan Lancia

Und was ist heute mit Chrysler los? Dass nach Lee Iococca - dem großen, einstigen Sanierer und Sohn italienischer Einwanderer - nun ein gebürtiger Italiener die Geschicke des amerikanischen Traditions-Unternehmens bestimmt, lässt dennoch wenig Freude aufkommen: Fiat-Chef und Chrysler-Aufkäufer Sergio Marchionne will in Deutschland die heute 70 Lancia- und 120 Chrysler-Händler unter dem Lancia-Logo zu einem gemeinsamen Netz zusammenknüpfen. Außer in England wird der Name Chrysler in Europa verschwinden. Und unter dem Kleid künftiger Lancia-Limousinen, so ist es von Marchionne geplant, steckt dann Heckantriebs-Technik von Chrysler aus den USA, die ihrerseits zum Großteil aus der Altwarenabteilung des einstigen Daimler-Partners stammt.

Einen Chrysler New Yorker, der mit V6-Motor und Frontantrieb von 1986 bis 1988 auch in Deutschland zu kaufen war, wird es hier zu Lande nicht mehr geben. Und einen roten, konsequent gestylten Familienjet, den Ehemann Peter Baumgartner, vor drei Jahren auf der US-Car-Website www.drivein.de entdeckt hat, mit Sicherheit auch nicht mehr. Baumgartner ist Präsident des US-Car-Club Friday Night Cruisers (www.fnc.ch) und Besitzer einer sehr seltenen Duntov Turbo Corvette von 1980. Nach eingehender Besichtigung des restaurierten Four Door Hardtop Sedan in der Nähe von München hatte er seiner Gattin Anna zum Kauf geraten: "Der Wagen war ursprünglich innen und außen in einem Bronze-Farbton gehalten, aber das Rot steht ihm auch ganz gut."

Viel wichtiger war das Typenschild im Motorraum mit dem Hinweis "Automontage Schinznach AG". Bis 1972 stellte die AMAG (Automobil und Motoren AG, heute Volkswagen-Importeur) aus angelieferten Karosserie- und Technikkomponenten Chrysler-Fahrzeuge für den Schweizer Markt her, was auch den Tachometer mit Kilometer-Skala erklärt. Die am rechten Endpunkt prangenden "200" waren übrigens laut Katalog des Genfer Autosalon von 1961 durchaus realisierbar. Für mutige New-Yorker-Piloten hieß es dann wohl: Ready for take off!