Voisin C6 Laboratoire im Fahrbericht

Das Ding aus einer anderen Welt

Ist das wirklich ein Automobil? Der 1923 von Gabriel Voisin für den Grand Prix von Tours gebaute  Laboratoire wirkt wie ein Wesen aus einem frühen Science Fiction.

Voisin Foto: Motorklassik 16 Bilder

Es gibt Automobile, die lassen sich mit we­nigen Worten so beschreiben, dass vor dem geistigen Auge des Zuhörers ein genaues Abbild entsteht. Und es gibt Fahrzeuge, bei denen dieses Unterfangen, so ein britischer Journalist, "dem Versuch ähnelt, eine Wendeltreppe zu erklären, wenn man die Hände auf dem Rücken zusammengebunden hat." Der Voisin C6 Laboratoire ist so ein Auto.

Einer der seltsamsten, faszinierendsten und bizarrsten Rennwagen

Wie soll man, bitteschön, ein Vehikel beschreiben, das anders aussieht als alle anderen Autos? Dessen ­vordere Spur doppelt so weit geriet wie die hintere, wobei die Vorderachse frei im Wind steht, während die Hinterachse im Heck verschwindet? Dessen Karosserie an ein herausgesägtes Stück einer Tragfläche erinnert, an deren Front sich die kastenförmige Verkleidung des Motors befindet, und auf dessen Kühler ein kleiner ­Propeller die Wasserpumpe antreibt?

Es geht nicht. Vielleicht muss man auf Superlative zurückgreifen: Der Laboratoire ist einer der seltsamsten, faszinierendsten und bizarrsten Rennwagen, die je gebaut wurden. Was wiederum daran liegt, dass alle diese Eigenschaften auch auf Gabriel Voisin zutreffen, den Erbauer, der vor allem eines war - ein großer Visionär. Der Sohn eines Metallgießers wurde am 5. Februar 1880 in Belleville-sur-Saône geboren. Nach einem kurzen Stu­dium der schönen Künste in Lyon widmete sich Voisin der Fliegerei und gründete mit Louis Blériot 1906 die erste Flugzeugfabrik in Boulogne-Billancourt. Ein Jahr später baute er das erste Flugzeug, das aus eigener Kraft starten konnte, und am 15. November 1907 legte eine ­Voisin‑Mark‑1 als Erste einen kompletten Kilometer in der Luft zurück.

Kopfschütteln der Konkurrenz

Schon damals zeigte sich Voisins Hang zu ungewöhnlichen und zukunftsweisenden Ideen. Für die Armee baute er ab 1914 Flugzeuge mit Ganzstahlkarosserie, was die Konkurrenz mit Kopfschütteln kommentierte: "absoluter Unfug, viel schwerer als Luft". Doch die Metallkons-truktionen neigten eben nicht dazu, bei der Landung auf den Ackern zu zer­bröseln, und am Ende des Krieges hatte Voisin ein Vermögen gemacht. Als nach dem Krieg der Bedarf an Flugzeugen schrumpfte, sattelte der Visionär um - auf Fertighäuser. Einige sollen noch heute beim Pariser Flughafen Orly stehen.

1919 schließlich begann Voisin mit dem Automobilbau, wobei er von Anfang an auf Schiebermotoren nach dem Patent des Amerikaners Charles Y. Knight setzte: Den Gaswechsel übernehmen dabei nicht die damals bruchgefährdeten Ventile und Federn, sondern zwei auf- und ablaufende Hülsen, wobei die innere als Laufbuchse dient. Der Vorteil lag im kultivierteren Lauf, der Leistungs- und Schmierungsnachteil sollte sich erst später auswirken. Zu den Motoren gesellten sich weitere avantgardistische Details - "à la ­Voisin" eben. Es dauerte nicht lange, und ein Automobil aus dem Pariser Vorort Issy-les-Moulineaux gehörte bei den ­Reichen und Schönen der Zwanziger zum guten Ton.

In den Dreißigern begann der Niedergang

Als Person stand Gabriel Voisin seinen Fahrzeugen an Exzentrik nicht nach: Für viel Zeitungsinteresse etwa sorgte das Engagement des Familienvaters bei den Folies Féminines der Pariser Oper, lauter Damen von untadeligem Ruf natürlich. Doch die Wirtschaftskrise ging auch an Voisin nicht vorbei. In den Dreißigern begann der Niedergang  des Luxuswagen-Herstellers, 1939 war Schluss. Nach dem Krieg widmete sich Voisin weiter seinen Visionen, noch mit 80 Jahren zeichnete er an einem Volkswagen für Indien. Er starb Weihnachten 1973 in einem Pariser Krankenhaus.

Wie weit die meisten seiner Ideen und Konstruktionen ihrer Zeit voraus waren, zeigt am eindrucksvollsten der C6 Laboratoire, den Voisin für den Grand Prix des ACF (Automobilclub von Frankreich) am 2. Juli 1923 in Tours entwickelte: Bei dem vollständig aus Leichtmetall ge­bauten Chassis handelt es sich im Prinzip um das erste Aluminium-Monocoque, die aerodynamische Form samt Unterboden nahm die Idee des Ground-Effect vorweg - wenn auch nicht wirklich erfolgreich.

Exotisch: Bremsen an allen vier Rädern

Bremsen an allen vier Rädern galten zu Beginn der Zwanziger ebenfalls als exotisch. Beim Laboratoire waren sie dazu mit einem Bremskraftverstärker versehen, zudem ließ sich während der Fahrt die Bremsbalance zwischen vorn und hinten verstellen. Die große Differenz in der Spurweite von Vorder- und Hinterachse hatte zunächst aerodynamische Gründe, darüber hinaus ließ sich durch die lediglich 75 Zentimeter Spurweite hinten das Differenzial einsparen: Das Streckenlayout von Tours entsprach einem 22,8 Kilometer langem Dreieck, Stabilität bei Höchstgeschwindigkeit war weitaus wichtiger als hohe Kurventempi.

Der langhubige Sechszylinder-Schiebermotor schließlich war eine der ersten Arbeiten des damals 28-jährigen André Lefebvre, der später für Citroën den Traction Avant, den 2 CV und die DS schaffen sollte. Mit 80 PS trieb der Zweiliter den 660 Kilogramm leichten Laboratoire auf respektable 175 km/h. Begierig, seine Konstruktion zu testen, war Lefebvre auch einer der Fahrer, die in Tours an den Start gingen; ­zusammen mit ihm stellten sich Arthur Duray, André Morel und Henri Rougier den 14 Konkurrenten.

Zwar erwies sich der Laboratoire als schnell genug, doch der mit nur drei Hauptlagern versehene Motor zeigte sich wenig standfest: Einzig Levebvre schaffte die vollen 35 Runden und kam hinter drei Sunbeam und einem Bugatti ins Ziel. Am 23. Dezember wiederholte sich das Drama, als in Monza keiner der drei eingesetzten C6 die Zielflagge sah. Fortan hatte Gabriel Voisin genug vom Grand Prix-Sport und verlegte sich auf Weltrekordfahrten.

Verschwunden - zerlegt und eingeschmolzen?

Die vier Laboratoire aber verschwanden in den Hallen von Issy-les-Moulineaux: Sie wurden vermutlich zerlegt und eingeschmolzen, um an das Aluminium zu kommen. Dass heute wieder gelegentlich ein C6 bei Veranstaltungen wie dem Festival of Speed auftaucht und dafür sorgt, dass sich die Zuschauer verwundert die Augen reiben, liegt an dem ­Renn­sport-Enthusiasten Philippe Mock. Der gebürtige Pariser hatte in den Siebzigern auf einer Seitenwagen-Kawasaki 31 Weltrekorde gesammelt und in den Achtzigern sämtliche Kunststoffteile für die Renault F1 gebaut. Heute fertigt der Spezialist für Carbonfiber beispielsweise die Monocoques für die BMW Formel Junior.

Zu Beginn der Neunziger schmökerte der 52-Jährige in Voisins Autobiographie "Mes mille et une voitures" (Meine 1001 ­Autos) und entdeckte darin ein Bild des Grand Prix-Wagens. "Bis dahin habe ich mich für Klassiker nicht sonderlich interesiert, aber das Foto des Laboratoire
hat mich einfach umgehauen", erzählt Mock. Und weil alle vier Exemplare verschollen waren, beschloss Mock kurzerhand, eine Nummer fünf zu bauen.

Fotografien und Erinnerungen als Vorbild für den Nachbau

Als Anhaltspunkte dienten einzig alte Fotografien sowie die Erinnerungen von Henri Bernard, dem Sohn des Motorenkonstrukteurs Marius Bernard, der als kleiner Junge in der Rennabteilung gespielt hatte. Bei der Technik konnte Mock auf Originalteile wie Motor, Getriebe und Achsen aus späteren Voisin-Limousinen zurückgreifen, für die der La­boratoire als Versuchsträger diente. "Beim Chassis haben wir überlegt, wie man es damals gemacht haben könnte, und konstruierten es entsprechend", sagt Mock.

Ein Jahr dauerten die Arbeiten in seiner Werkstatt in Chavignon, einem 500-Seelen-Ort nordöstlich von Paris. Die während dieser Zeit an die Öffentlichkeit gedrungenen Gerüchte kommentierte der Fachjournalist Jacques Potherat mit Unglauben: "Den Voisin Laboratoire zu rekonstruieren ist unmöglich - das ist, als wolle man die Titanic nachbauen." Zur Retromobile 1993 aber wurde der Rennwagen dem staunenden Publikum präsentiert. Und seither lässt Mock keine Gelegenheit aus, das futuristische Fahrzeug bestimmungsgemäß zu verwenden: Möglichst schnell, sonst treibt der Propeller auf dem Kühler die Wasserpumpe nicht flott genug an, und der Motor kocht.

Und wie fährt sich nun die Avantgarde des Jahres 1923? Nicht ganz so abenteuerlich, wie sie aussieht. Die Pedale stehen noch etwas enger als etwa in ­einem Bugatti, aber zumindest in der richtigen Reihenfolge: Kupplung, Bremse, Gas. Der Motor spricht feinfühlig an und treibt den leichten Wagen kräftig vo­ran, bei vollem Beschleunigen aus engen Kehren drehen naturgemäß die schmalen Hinterreifen durch. Das unsynchronisierte Dreiganggetriebe verlangt nach Doppelkuppeln, Zwischengas und einer entschlossenen Hand.

Gewöhnungsbedürftig sind vor allem die mittels Unterdruck ­unterstützten Bremsen, die bei der kleinsten Pedalberührung wie hydraulische Pressen zupacken und nur mit viel Übung dosiert werden können. Das Fahrverhalten indes zeigt sich ebenfalls weniger exotisch, als es die unterschiedlichen Spurweiten erwarten lassen: Wer schon einmal einen ­Threewheeler gefahren ist, kann es sich etwa vorstellen. Insgesamt aber verblasst der Fahreindruck gegenüber der optischen Verzauberung, die der Voisin aus jedem Blickwinkel auf den Betrachter ausübt. Eines ist sicher: Man kann ihn vielleicht nicht beschreiben – doch wer den Laboratoire einmal gesehen hat, wird ihn nie mehr vergessen.