Mercedes 280 E /8 (W 114)

Schwäbisches Muscle-Car

Klaus Westrup blättert in seinem alten Notizbuch und erinnert sich an einen üppig motorisierten Mercedes – den 280 E. Mit seinem 185 PS-Doppelnockenwellen-Sechszylinder ist er der stärkste Strich-8.

Mercedes 280 E, Frontansicht Foto: Archiv 8 Bilder

Die Siebziger haben gerade Fahrt aufgenommen, als Mercedes mit einem kühnen Griff ins Regal den eigentlich für die S-Klasse neu entwickelten Doppelnockenwellen-Sechszylinder in die darunter rangierende Baureihe verpflanzt. Der brave Strich-8, den man automatisch mit langlebigen und trägen Vorkammer-Dieseln assoziiert, wird auf einmal zum Raketen-Wagen.

280 E /8 soll die Power-Lücke schließen

Von einer „Premiere im kleinen Haus“ spricht auto motor und sport anlässlich der Vorstellung des schwäbischen Muscle-Cars, das zwei Jahre später, 1974, zu einem Dauertest über 50.000 Kilometer antritt. Das Auto ist gelb, und vor allem die rasanten Fernfahrer freuen sich. Der unscheinbar wie ein 200 D auf der Straße stehende  Mercedes 280 E hat 185 PS und läuft 200.

Auf die Frage, warum der neue Motor zunächst in einem verhältnismäßig kleinen Mercedes antreten darf, gibt es zwei Antworten. Die Techniker wollen vorab im kleinen Haus Erfahrungen sammeln, zudem besteht gerade im Vergleich mit dem Dauerrivalen BMW eine Art Power-Lücke. Mercedes-Autos werden als solide, gut verarbeitet und unfallsicher wahrgenommen, nicht aber als besonders dynamisch. Der Mercedes 280 E soll das ändern, als Wolf im Schafspelz.

Das ist der Mercedes 280 E wirklich, denn schafspelziger kann ein starker Mercedes kaum auftreten. Optisch fallen nur etwas aufwendigere Stoßstangen auf, auch innen ist alles wie gewohnt.

DOHC-Motor mit Transistorzündung und elektronischer Einspritzung

Das Wölfische steckt unter der Motorhaube des Mercedes 280 E, ein sowohl formal als auch technisch höchst aufwendiger Reihen-Sechszylinder. Er basiert zwar auf dem Zylinderblock mit sieben Hauptlagern des alten 280 SE-Triebwerks, doch die Besonderheit sitzt, wie bei manchen Menschen, im Kopf.

Auf das Querstrom-Prinzip wollten die Ingenieure nicht verzichten, Kipphebel aber vermeiden – so kommt die teure zweite Nockenwelle zustande. Im Verbund mit der elektronischen Benzineinspritzung und der Transistorzündung ergibt sich ein für damalige Verhältnisse wahres Hightech-Aggregat, das seine Höchstleistung erst bei 6.000 Touren entwickelt, und dessen Drehmoment-Maximum von fast 250 Newtonmeter bei 4.700 Touren ebenfalls auf einen eher sportlich ausgelegten Sechszylinder schließen lässt.

Schnellstes Taxi der Welt im Dauertest

Er ist es in der Tat. Wenn man so will, haben die Schwaben mit dem Mercedes 280 E das schnellste Taxi der Welt auf die Räder gestellt und, ohne es ernsthaft zu wollen, ein Abbild ihres eigenen Wesens geschaffen – brav, unscheinbar, solide, aber voller Energie. Bei den ersten Messfahrten jagt der gelbe Silberpfeil mit 201 km/h den fliegenden Kilometer entlang, am Ende des Dauertests ermittelt die penible Testabteilung sogar eine Steigerung. Jetzt sind es 202.

Dienst- oder Urlaubsfahrten in den Norden von Deutschland werden bei den noch weniger frequentierten Autobahnen im Mercedes 280 E zu einem rasanten Vergnügen. Die immer wieder trutzig im Wege stehenden Kasseler Berge bügelt Daimlers neuer Kraft-Wagen mit großer Lässigkeit nieder, auch weil die Mercedes-Techniker eher kurz übersetzt haben und auf das ausgezeichnete Drehvermögen der neuen Maschine vertrauen. Bei Höchstgeschwindigkeit dreht der Sechszylinder aus, und weder akustisch noch schwingungsmäßig entsteht das Gefühl mechanischer Überforderung.

Sechszylinder mit Kraft und Laufkultur

Auch das unauffällige, gleichwohl energisch klingende Laufgeräusch erzeugt zusammen mit der Abwesenheit von Vibrationen für hohes Motorvergnügen, auch für Freude an hohen Drehzahlen. Ein Sportmotor mit besten Alltagsmanieren ist hier entstanden und ein Auto, das in kaum mehr als 9 Sekunden auf Tempo 100 beschleunigt – damit ist der Mercedes 280 E kaum weniger flott als der berühmte Flügeltürer.

Ein Kostverächter ist die wie ihr eigenes Denkmal unter der Haube des Mercedes 280 E stehende Maschine dagegen nicht geworden. Der Testverbrauch über eine Strecke von 51.200 Kilometern beträgt fast 16 Liter im Schnitt, einen Schluck Mehrbereichsöl kann der brillante Zweinockenwellen-Motor hin und wieder ebenfalls vertragen. 0,2 Liter sind es auf 1.000 Kilometer – damals eine eher geringe Nachfüllmenge.

7 Sätze Bremsbeläge auf 50.000 km

Die hohen Fahrleistungen, zu denen der Mercedes 280 E animiert und befähigt, kosten viel Benzin, – und Bremsbeläge. Die vier Bremsscheiben überstehen die 50.000 Kilometerdistanz zwar unbeschadet, doch die relativ weichen Beläge müssen vorn Sieben Mal erneuert werden, an der Hinterachse immerhin noch drei Mal.

Mechanisch bleibt der Power-Benz ebenfalls nicht ganz ohne Komplikationen. Schon nach halber Distanz lässt die Synchronisation des zweiten Ganges zu wünschen übrig, bei knapp 30.000 Kilometern wird das Schaltgetriebe des Mercedes 280 E ausgetauscht. Wie zu erwarten, gewährt Mercedes Kulanz. Kurzzeitig läuft der Motor des Mercedes 280 E nur auf fünf Zylindern, sämtliche Einspritzventile stehen zur Überprüfung an, Ventil fünf und sechs werden erneuert. Auch das kostet nichts und hält die Gesamtbilanz für ein Auto dieser Klasse in einem akzeptablen Bereich.

Über den dynamischen Teil kann man beim Mercedes 280 E ohnehin nicht klagen, weitere Steigerungen sind ein Fall für den Spezialisten. Der Zufall will es, dass wir auf den kurvenreichen Straßen nahe der einstigen AMG-Hochburg Burgstall bei Backnang auf einen ebenfalls optisch völlig unauffälligen Strich-8 auflaufen. Am Steuer der Chef persönlich, Hans-Werner Aufrecht leibhaftig, das A von AMG. Offenbar will er es dem Verfolger zeigen, markiert die Kurven mit schwarzen Radierspuren. Der Firmensitz ist damals noch eine kleine ehemalige Mühle in idyllischer schwäbischer Umgebung.

Aufrecht steigt aus, wir sind neugierig, was er unter die Haube appliziert hat. Es ist der 3,5-Liter-V8 aus der damaligen S-Klasse oder dem SL mit der Kennziffer 107. Serienmäßig hat dieser Achtzylinder 200 PS, in dem unscheinbaren Einzelstück dürften es um die 240 gewesen sein.

Wer lässt so was machen? Aufrecht will keinen Namen nennen, verrät uns wenig. Es handle sich um einen Miederwaren-Fabrikanten. Auch mit dem Auto will er so unauffällig und effektiv sein wie eine Corsage.

Mercedes 280 E in auto motor und sport, Ausgabe 4/1974

„Der hohe Bremsverschleiß und das unerfreulich zu schaltende Getriebe waren die einzigen Kritikpunkte an der kompakten, starken Mercedes-Limousine. Sie ist dank ihres drehfreudigen Doppelnockenwellen-Motors ein ernstzunehmender Konkurrent zu den sportlichen Viertürern aus München. Der recht hohe Verbrauch geht auf das Konto ambitionierter Fahrweise.“