Mercedes Benz 450 SEL 6.9 und 300 SEL 6.3

Zwei M100-Volumen-Modelle

Jenseits des handgefertigten Elite-Automobils Mercedes 600 gab es die lange S-Klasse mit dem großvolumigen M 100-Motor. 6.3 und 6.9 schufen sich als schnelle Autobahn-Kuriere ihren eigenen Mythos. Noch heute liegt ihr Reiz im Überfluss. 

Mercedes-Benz 300 SEL 6.3 und 450 SEL 6.9 Foto: Frank Herzog 22 Bilder

Sein Auto muss vollkommen sein„, schrieb Fritz B. Busch vor dreißig Jahren über den Psychiater, Kunstsammler und Filmemacher Professor Ottomar Domnick. Der hünenhafte Intellektuelle, ein ewig Suchender nach dem perfekten Automobil, fand es nach 30 Versuchen im 6.9. Wegen ihres Antriebskomforts war er zunächst großvolumigen Amerikanern verfallen, aber Straßenlage und Qualität? Nein. Kurze Abstecher zu Iso Rivolta und Maserati endeten jäh in fehlender Harmonie. Es folgte ein Mercedes 250 SE – zu wenig Motor.


Der talentierte Mr. Waxenberger

Der Sechszylinder wirkte angestrengt. Dann ein weißer 6.3 und schließlich der 6.9 – ein 77er in Graublaumetallic, fast so wie der ehemalige Vorstandswagen auf diesen Seiten, der auch als Versuchsträger diente. „Der Mercedes 6.9 berauscht ihn“, schrieb Busch weiter. „Mit ihm wird das Fahren zur Melodie“. Domnick war ein Auto-Spinner, besser gesagt, ein Auto-Philosoph. Zu seinem 70. wünschte er sich ein Edelholzinstrumentenbrett für den 6.9. Er schmückte den Wagen mit Zusatzuhren und gab ihm den Namen Oktavius. Den Stern auf der Motorhaube eliminierte er kuzerhand.

„Zum vollendeten Automobil gehört ein kraftvoller, leiser Motor“, sagte Domnick. Der 6.3 war ihm noch zu laut, zu brüllend der Klang beim scharfen Beschleunigen, zu hart die Gangwechsel, das Fahrwerk nicht von jener stoischen Gelassenheit, die der 6.9 vermittelt.

Unser Mercedes-Benz 300 SEL 6.3 stammt aus Frankreich, seine gelben Halogen-Doppelscheinwerfer verraten ihn als Exportmodell. Er schmückte als Ausstellungsstück den Pariser Salon im Herbst 1970 und verbrachte die Blüte seiner Jahre rostfrei im wohltemperierten Cannes. Die Doppelscheinwerfer waren serienmäßig dem Mercedes-Benz 300 SEL 6.3 vorbehalten, ebenso wie die innenbelüfteten Bremsscheiben rundum. Zur besseren Bremsenkühlung empfahl Daimler-Benz die erst ab Ende 1969 lieferbaren geschmiedeten Fuchsräder mit Turboeffekt als Extra. Ihr richtungsweisendes, funktionelles Design sollte als stilsicherer Mercedes-Standard bis 1985 überleben. Die Idee, den über 350 Kilo schweren Achtzylinder-Brocken aus dem Mercedes 600, intern M 100 genannt, samt Fünfgang- Getriebe zunächst in ein luftgefedertes 300 SE Coupé zu implantieren, stammte vom talentierten Versuchsingenieur Erich Waxenberger.

Schnellste Serienlimousine der Welt

Der pragmatische Bayer liebte ausgefallene Experimente. Er stieß mit der Herzverpflanzung bei seinem rennsportbegeisterten Chef, dem Leiter des Personenwagen-Versuchs Rudolf Uhlenhaut, auf spontane Zustimmung. Selbst eine Pagode aus dem Waxenberger-Baukasten mit dem M100 ist überliefert, Stuttgart – München schaffte er so in anderthalb Stunden.

Der V8 wurde auch von Chefingenieur Dr. Hans Scherenberg favorisiert, eine kleinere Variante sollte mittelfristig den konstruktiv ausgereizten Dreiliter-Alu-Motor ablösen. Doch fiel die Entscheidung zunächst für die SEL-Limousine mit automatischem Getriebe. Beim Genfer Salon 1968 feierte der Mercedes-Benz 300 SEL 6.3 als schnellste Limousine der Welt, sportlich angehaucht mit serienmäßigem Drehzahlmesser und Sperrdifferenzial, zum stolzen Preis von 41.000 Mark Premiere. Ein gutes Jahr später stand im Herbst auf der IAA für 10.000 Mark weniger das schwächere Pendant 300 SEL 3.5. Sein zierliches, überaus drehfreudiges Achtzylinder-Triebwerk ist mit dem M100 konstruktiv eng verwandt. Es lässt sich mit Viergang-Schaltgetriebe oder gegen Aufpreis mit Automatik kombinieren. Luxuriös ausstaffiert wie der Große mit Velourspolstern, elektrischen Fensterhebern vorn und hinten sowie Zentralverriegelung und hochwertigem Holzfurnier als feines Dekor an den Türverkleidungen hielt er Abstand zum Mercedes-Benz 280 SE 3.5.

Die Luftfederung mit automatischer Niveauregulierung verhalf der antiquierten Pendelachse schon in der 300 SE-Heckflosse zu gutmütigen Fahreigenschaften. Die heftigen Spur- und Sturzveränderungen bei scharfen Bremsen und rasanter Kurvenfahrt blieben aus, der Fahrkomfort profitierte sogar noch. Waxenbergers Unterschrift ziert das nachträglich auf Hochglanz polierte Saugrohr des dunkelblauen Mercedes-Benz 300 SEL 6.3. Nach seiner Odyssee durch Frankreich landete er bei zwei M100-Freunden in Hessen. In der kleinen Halle von Matthias Hemm und Hartmut Rauter irgendwo zwischen Wetzlar und Friedberg ist er neben dem graublauen Mercedes-Benz 450 SEL 6.9 und ein paar Teileträgern bestens aufgehoben.

Die beiden Mercedes-Fans kommen aus der Strichacht-Szene, an die komplizierten M100-Boliden haben sie sich nur rangetraut, weil sie schrauben können. Vor allem für Matthias, den Kraftfahrzeug-Ingenieur, sind die beiden Power-Mercedes eine besondere Herausforderung. Stets sucht er nach Möglichkeiten, seinen Vorzeige-280 E Strichacht mit originalen Extras aufzurüsten oder fahrwerksseitig zu optimieren.

Der Ältere beschleunigt besser

Hartmut hat einen Mercedes-Benz 230 der ersten Serie, original und in Topzustand. Zwischen den Baureihen besteht ein enges Verwandtschaftsverhältnis, schließlich ist ja auch ein Mercedes-Benz 300 SEL 6.3 genau wie der 600 und der Strichacht ein echter Paul Bracq. Ungeduldig scharrt der Alte im Leerlauf, der Zeiger des kleinen Drehzahlmessers pendelt sich zitternd bei 700 Touren ein. Beim Anfahren empfiehlt es sich, nicht zu viel Gas zu geben – dann schnellt der 6.3 vehement und für den Novizen hinter dem filigranen Hupring-Lenkrad eine Spur zu unkontrolliert voran. Die erste Stufe der Viergangautomatik ist recht kurz übersetzt. Die Schaltrucke der Automatik sind unter dem brachialen Drehmomentausstoß des Big-Block-Achtzylinders heftig spürbar, doch durchdrehende Hinterräder verhindert das immerhin serienmäßige Sperrdifferenzial. Man sitzt recht hoch im Mercedes-Benz 300 SEL 6.3, genießt ohne Kopfstützen beste Sicht nach allen Seiten.

Der Mercedes-Benz 300 SEL 6.3 fühlt sich vom Fahrersitz aus viel zierlicher an, als es die 1,80 Meter Breite und die fünf Meter Länge vermuten lassen. Wenn keine engen Parklücken drohen, verhält er sich anschmiegsam und wendig wie ein Strichacht – so lange man ihn rollen lässt und der Versuchung widersteht, mal ordentlich Gas zu geben. Denn dann raucht es. Der Mercedes-Benz 300 SEL 6.3 faucht zornig und beschleunigt noch drastischer als ein Mercedes-Benz 450 SEL 6.9, was sogar die einstigen Messwerte belegen. Für den Sprint von 0 auf 100 km/h steht es trotz 36 PS Mehrleistung 7,3 zu 8,2 Sekunden. Nur oben heraus läuft der Neue dank ausgefeilter Aerodynamik und längerer Hinterachs-Übersetzung schneller, nämlich 221 km/h zu 234 km/h.

Der Mercedes-Benz 450 SEL 6.9 wiegt zwar nur 155 Kilo mehr als der 6.3, fühlt sich aber viel schwerer und auch ein wenig behäbiger an. Im Handling, etwa auf schnell gefahrenen kurvenreichen Landstraßen, erinnert der Mercedes-Benz 300 SEL 6.3 mit seiner leichten Übersteuertendenz und präzisem Einlenken an eine gut gehende Pagode. Perfekt suggeriert das aus dem Vollen gefräste 116er-Flaggschiff das Gefühl des schweren Wagens. Er untersteuert stärker in Kurven, wirkt nicht so behände wie der Mercedes-Benz 300 SEL 6.3, der nicht von ungefähr eine Karriere als Renntourenwagen nachweisen kann. Andererseits ist der Abrollkomfort der Hydropneumatik unschlagbar, wirklich eine Klasse für sich.

Gediegene Innenraumausstattung

Wie auf Samtpfoten bewegt sich der große Gleiter, ohne dabei schwammig zu wirken. Sogar die Lenkung wirkt um die Mittellage angenehm direkt. Ein schwarzer rechteckiger Knopf, gut über der Lenksäule versteckt, verrät den Mercedes-Benz 450 SEL 6.9. Damit lässt sich das Niveau des Wagens anheben oder absenken, eine rote Kontrolleuchte ganz rechts außen in der Warnlampenleiste signalisiert den Vorgang. Das Raumgefühl ist vor allem durch die fürstliche Innenbreite deutlich großzügiger als beim Vorgänger.

Laut und satt wie ein Schuss fällt die Fondtür ins Zapfenschloss. Die üppigen hinteren Türverkleidungen sorgen im Fond mit den Vorhängen und den Kunststoffapplikationen der „gehobenen Ausstattung“ für ein unnachahmliches Gefühl der Geborgenheit. Matthias Hemm und Hartmut Rauter fanden ihren ganz besonderen Mercedes-Benz 450 SEL 6.9 in der Konkursmasse des VW-Tuners Oettinger. Dank einer werksseitigen Hohlraumversiegelung litt der einstige Versuchswagen für den Vorstand nur unter den üblichen Standschäden.

Sonderausstattung für den Mercedes-Vorstand

Die geringe Laufleistung von knapp 135.000 Kilometern überzeugte. Der blaue Karostoff mit den eingestreuten unifarbenen Biesen macht den Wagen zum Unikat, denn serienmäßig gab es beim 6.9 nur Velours und gegen Aufpreis Leder. Die Mittelkonsole des Mercedes-Benz 450 SEL 6.9 ist mit einer Außentemperaturanzeige und einem Amperemeter bestückt. Zwei orangene Schalter, die man der Sitzheizung zuordnen würde, lockern und straffen die Sicherheitsgurte auf Kommando, um eine optimale Führung zu gewährleisten – ein Detail, das nicht in Serie ging. Und an Stelle des furnierten Aschenbechers saß das Bedienelement eines C-Netz- Telefons. Der Tempomat ist serienmäßig, das gediegene Wurzelholz wiederum kostete selbst im 73.100 Mark teuren S-Klasse-Flaggschiff Aufpreis. Vor allem ist so ein 6.9 heute eine Urlaubsinsel im Strom des Massenverkehrs. Selten reiste seine Besatzung entspannter, aber auch ein wenig isoliert – wie in einer üppigen Wohnlandschaft auf Rädern.

Der Mercedes-Benz 300 SEL 6.3 ist dagegen ein Stilmöbel, eine reine Antiquität, gediegen in der Ausführung des Innenraums. Geschraubte Holzleisten um die Seitenfenster, Chromrähmchen um jedes einzelne Instrument, schraffierte Zifferblätter und eine eher ästhetisch als ergonomisch motivierte platzierte Verteilung von Schaltern, Hebeln und Knöpfen. Es scheint so, als lägen mindestens 20 Jahre zwischen beiden Autos, an vielen Details wird dies deutlich – Hupring kontra Prallplakette, zierlicher Wählhebel gegen Faustkeilgriff, Omnibus-Rückleuchten statt Art-Deco-Lämpchen. Das Design eines Mercedes-Benz 450 SEL 6.9 ist wesentlich von der passiven Sicherheit geprägt. Seine eigenwillige, monströse Schönheit betört heute manche noch nachhaltiger als die filigrane Ästhetik eines W 109. Ottomar Domnick fuhr seinen geliebten Mercedes-Benz 450 SEL 6.9 fünf Jahre und 100.000 Kilometer. Dann stieg er auf einen Jaguar XJ-S um. Der begeisterte Hobby-Cellist war am Ende doch der Zwölftonmusik verfallen.  

Eine Klasse für sich: Hydropneumatik im 6.9

Andererseits ist der Abrollkomfort der Hydropneumatik unschlagbar, wirklich eine Klasse für sich. Wie auf Samtpfoten bewegt sich der große Gleiter, ohne dabei schwammig zu wirken. Sogar die Lenkung wirkt um die Mittellage angenehm direkt.

Ein schwarzer rechteckiger Knopf, gut über der Lenksäule versteckt, verrät den 6.9. Damit lässt sich das Niveau des Wagens anheben oder absenken, eine rote Kontrollleuchte ganz rechts außen in der Warnlampenleiste signalisiert den Vorgang.

Der blaue Karostoff mit den eingestreuten unifarbenen Biesen macht den hier gezeigten 6.9 zum Unikat, denn serienmäßig gab es nur Velours und gegen Aufpreis Leder. Die Mittelkonsole ist mit einer Außentemperaturanzeige und einem Amperemeter bestückt. Zwei orangene Schalter, die man der Sitzheizung zuordnen würde, lockern und straffen die Sicherheitsgurte auf Kommando, um eine optimale Führung zu gewährleisten - ein Detail, das nicht in Serie ging. Und an Stelle des furnierten Aschenbechers saß das Bedienelement eines C-Netz- Telefons.

6.3 und 6.9: Urlaubsinsel versus Stilmöbel

Der Tempomat ist serienmäßig, das gediegene Wurzelholz wiederum kostete selbst im 73.100 Mark teuren S-Klasse-Flaggschiff Aufpreis. Vor allem ist so ein 6.9 heute eine Urlaubsinsel im Strom des Massenverkehrs. Selten reiste seine Besatzung entspannter, aber auch ein wenig isoliert - wie in einer üppigen Wohnlandschaft auf Rädern.

Der 6.3 ist dagegen ein Stilmöbel, eine reine Antiquität, gediegen in der Ausführung des Innenraums. Geschraubte Holzleisten um die Seitenfenster, Chromrähmchen um jedes einzelne Instrument, schraffierte Zifferblätter und eine eher ästhetisch als ergonomisch motivierte platzierte Verteilung von Schaltern, Hebeln und Knöpfen.

Das Design eines Mercedes 6.9 ist wesentlich von der passiven Sicherheit geprägt. Seine eigenwillige, monströse Schönheit betört heute manche noch nachhaltiger als die filigrane Ästhetik eines W 109.

Ottomar Domnick fuhr seinen geliebten 6.9 fünf Jahre und 100.000 Kilometer. Dann stieg er auf einen Jaguar XJ-S um. Der begeisterte Hobby-Cellist war am Ende doch der Zwölftonmusik verfallen.