S-Klasse für 800 Euro

Der Blues-Benz

Eine Mercedes S-Klasse mit 8 Zylindern für 800 Euro. Erste Hand und nur 149.900 km sind ein Versprechen, das der Zustand nicht halten kann. Alf Cremers begibt sich auf Gebrauchtwagenpirsch auf einem Münchener Kiesplatz.

Mercedes-Benz 380 SE, Frontansicht, Waschstraße Foto: Karl-Heinz Augustin 13 Bilder

Mercedes S-Klasse in schlechtem Zustand

Urlaub zu Hause kann manchmal so fad sein, irgendwann machte ich mich frei von allen Zwängen. Ich brauchte dringend einen Thrill, so zwischen Wertstoffhof, Möbelhaus und Outlet-Center. An einem grauen Hochnebeltag, der ein voreiliger Novembergruß zu sein schien, mache ich mich allein auf den Weg nach München in die Bodenseestraße, dem Dorado unter den Lost Places für Gebrauchtwagen-Schnäppchenjäger. Ich kämme alle Plätze durch.

Ganz hinten bei Automobile Vehudin Ramic steht er, ein weiße Mercedes S-Klasse, ein W 126 erster Serie, angeschossen, waidwund, mit schmutzigem Gefieder. Ein sterbender Schwan vor Büro 3, das kein Container ist wie üblich, sondern eine Baracke mit Ziegeldach, davor jede Menge Kies. Die Räder trägt der Benz stark eingeschlagen, das Profil alter, harter Winterreifen streckt er vor, die bremsstaubschwarzen 15-Zoll-Radkappen vom 124er, kein getöntes Glas, was mich sonst total abtörnt. „MB 380 SE, Baujahr 1983, 1.200 Euro, Vollfahrbereit“ steht auf dem Preisschild, voll fahrbereit in einem Wort, das finde ich schon mal ziemlich kreativ. Hinten rechts hat er einen Treffer gehabt, das Blinkerglas ist kaputt, die Stoßstange fies rangedrückt.

H-Kennzeichen mit ein wenig Arbeit

Ich werde nervös, drücke meinen Kopf eng an die Scheibe der Mercedes S-Klasse-Fahrertür, schatte sie mit der Hand ein Stückchen ab. Aha, Lederpolsterung, Mittelarmlehne vorn, Becker Mexico Cassette. Auf dem Tacho des W 126 lese ich 149.936 km, ungefähr 326.000 habe ich erwartet. Der große weiße Mercedes wirkt in dem trashigen Umfeld so hilflos und zierlich. Ramic ist nicht da, sein Büro bleibt dunkel, die Rolladenlamellen hängen schief. Er geht auch nicht ans Mobiltelefon, was mir eine Atempause kühlen Nachdenkens verschaffen könnte. Funktioniert aber nicht. Aufgeregt springe ich rund ums Auto und mache Fotos, hoffentlich sieht mich keiner! 1983, das bedeutet H-Kennzeichenreife mit ein bisschen Arbeit, der Rost hält sich in Grenzen, Radläufe und Schweller sind okay, die Vorderkotflügel sind an den Ecken ein bisschen angenagt, der Heckscheibenrahmen unten ohne Bläschen. Wenn der Mercedes 380 SE läuft, riskiere ich es, für 1.000 Euro wird er mein Blues-Benz.

Zwei Tage später, der Wagen steht gottlob nicht im Internet, bin ich mit Fotograf Karl-Heinz Augustin auf dem Weg nach München – zum Mercedes W 126. Kurz vor dem Autobahnkreisel in Obermenzing greift meine Guerilla-Taktik. Anruf bei Ramic: „Ist die weiße S-Klasse noch da? Wir kommen in einer halben Stunde vorbei. Was, für 800 Euro können wir ihn mitnehmen? Wenn er läuft, sind wir im Geschäft.“

Ramic begrüßt uns freundlich, steht schon mit furchtbar geflickten Schlüsseln und Papieren bereit. Ich nestele nervös die Fahrertür auf, lasse den einst so luxuriösen Wagen langsam auf mich wirken. Tiefes Durchatmen im ledernen Fahrersitz der Mercedes S-Klasse der Baureihe W 126. Es riecht selbst nach 30 Jahren noch nach Leder, aber das Holz in der oben zweimal gerissenen Instrumententafel wurde von der Sonneneinstrahlung förmlich abgesprengt, der bloße Aluträger des Furniers wird sichtbar. Im Handschuhfach liegt die Bedienungsanleitung, und beim Kramen in der Plastik-KD-Mappe ziehe ich ein pergamentdünnes Papier hervor, die Neuwagenrechnung. Sie lautete am 26.10.1983 auf immerhin 66.125,93 Mark inklusive ABS, Schiebedach und Ausgleichsgetriebe mit begrenztem Schlupf.

S-Klasse hat Startschwierigkeiten

Die Mercedes S-Klasse ging damals an ein Ingenieurbüro in Starnberg. Vieles deutet auf eine lange Standzeit im Freien hin. Ein Wartungsheft für den W 126 gibt es leider nicht. Ich öffne die Motorhaube und springe raus, zur Kontrolle von Öl und Wasser. Ramic fragt schon ungeduldig, ob ich den Achtzylinder nicht endlich mal starten wolle. Ein paar Anlasserumdrehungen, unterstützt von der riesigen 100 Ah-Dieselbatterie, der monumentale Motor mit dem Talent zu großer Geschmeidigkeit schüttelt sich in der Aufhängung und rumpelt lustlos auf vier oder fünf Zylindern. Ein paar milde Gasstöße stabilisieren den Leerlauf, nach ein paar Minuten melden sich alle Zylinder an die Arbeit. Ramic stellt entspannt fest: „Es ist kein Neuwagen, sondern ein 30 Jahre altes Auto.“

Ich bestehe ausnahmsweise auf eine Probefahrt, Augustin begleitet mich, wir zirkeln die Mercedes S-Klasse (Baureihe W126) dank ihres extrem kleinen Wendekreises mühelos aus dem verwinkelten Kiesplatz-Millieu. Der Fotograf übernimmt dabei die Kontrollfunktion des damals nicht georderten Beifahrer-Außenspiegels. Der Achtzylinder sägt immer noch unharmonisch im Leerlauf, mal rauf auf 1.800/min, mal runter auf 600, geht aber beim Einlegen der Fahrstufe wenigstens nicht aus. Etwas zu ruckartig schießen wir auf die B2, die uns hoffentlich bis zur nächsten Tankstelle bringt. Der Zeiger der Benzinuhr verharrt regungslos im Keller, die rettende gelbrote Shell-Muschel grüßt schon von Weitem. Die rostigen Bremsscheiben verzögern anfangs milde, später besser.

Mercedes S-Klasse (W 126) kostet 800 Euro

Wir folgen der B2 mit der Mercedes S-Klasse, der Baureihe W 126, bis nach Germering, der Achtzylinder läuft jetzt manierlich. Zum ersten Mal kommt Freude bei mir auf, der Motor zieht kräftig, die Automatik schaltet weich. Das Lenkspiel ist kaum spürbar, die geringe Laufleistung halte ich für glaubhaft, auch weil die Baumrindenstruktur des Lenkrads noch nicht abgegriffen ist. Mit feurigem Elan im Herzen zurück zu Ramic, der uns schon ungeduldigt erwartet. Seine finstere Miene hellt sich zu einem ungläubigen Lächeln auf, als ich ihm 800 Euro in Fünfzigern über seinen Tisch mit den vielen Schlüsseln schiebe.

Nun braucht der Mercedes W126 Auslauf jenseits der Stadtgrenze, will heißen mittlere Drehzahlen ohne Stop and Go, die Mercedes S-Klasse muss sich nach langer Standzeit entfalten, darf sich das erste Mal frei fühlen. Temperatur und Öldruck stimmen. Erst jetzt weicht die Anspannung, und mir gefällt der dezent-grummelige Sound dieses kleinen und mit 204 PS auch milde motorisierten V8. Es kommen bei mir eben stets freudige Gefühle auf, wenn sich eine vielzylindrige Wärmekraftmaschine mit einem Strömungsgetriebe paart. Diese Kombination entspannt und macht souverän. Stets hat man genügend Leistung und Drehmoment unterm Pedal.

Am Ende 27 gezählte Mängel

Bevor ich in die lang gezogene Bergsonstraße einbiege, vorbei am monumentalen DB-Heizkraftwerk, fahre ich die classicweißen Mercedes S-Klasse W 126 durch die Waschstraße. Das Ergebnis überzeugt, weg mit dem Grauschleier, die Nachmittagssonne taucht die alte S-Klasse in ein reines klares Weiß. Der einst so schöne Schwan ist zurück im Leben, vor lauter Übermut will ich eine Cassette einlegen. Mir ist nach Pathos im schweren Wagen, also „Turn of the Century“ von Yes oder „Wind & Wuthering“ von Genesis. Aber das Becker Mexico verweigert sich, nimmt die Cassetten nicht an. Es schweigt mit arroganter Ignoranz, auch auf UKW. Also Schiebedach auf, Mittelarmlehne runter und es sich trotzdem gemütlich gemacht. Die Oktobersonne scheint an diesem Tag besonders kräftig, sie taucht die Blätter in ein flammendes Bunt.

„Stuttgart 208 km“ zeigt die leuchtend blaue Tafel an der A8, das schaffen die Mercedes S-Klasse (Baureihe W 126) und ich locker. Der Stern ganz weit vorn gibt mir Zuversicht. Tank fast voll, Temperatur 90 Grad, Öldruck voll, Tempo konstant 120 bei 2.800/min, Verkehrslage entspannt. Unterwegs memoriere ich die Mängel, die mir bislang aufgefallen sind, komme auf 27, das sind gar nicht mal unerwartet viele. Mein Ziel ist das H-Kennzeichen, vielleicht die Utopie eines Träumers oder das Glück des Gläubigen. Meine nächste Tour im Mercedes 380 SE wird mich nach Starnberg führen, auf den Spuren seiner Vergangenheit.