Volvo 144 de Luxe im Fahrbericht

Mein bester Kumpel

Die 140er-Baureihe von Volvo predigt die sichere Zweckform. Das klingt nach Spaßbremse. Doch schon nach einem Tag wird das kühle Nordlicht zum wahren Freund.

Volvo 144 de Luxe, Frontansicht Foto: Jörg Künstle 17 Bilder

Er hat immer noch den zweifelhaften Status eines alten Gebrauchtwagens, obwohl er 42 Jahre alt ist und längst im besten H-Kennzeichen-Alter. Jeder gleich alte VW Käfer, Triumph Spitfire oder Jaguar findet dank seines formalen Liebreizes Beifall, erntet erst recht bei den Frauen Verzückung oder gar Bewunderung. Sein Vorgänger Amazon mit amerikanischer Fünfziger-Jahre-Rundlichkeit ist auch so ein Herzensbrecher.

Identitätsstiftende Volvo-Banderole

Der Volvo 144 De Luxe taugt nicht zum Vorstadt-Casanova, nur Kenner nehmen ihn wahr, das Publikum ignoriert ihn. Ein älterer Herr an der Tankstelle outete den tapferen Schweden, in unauffälligem Heeresgrau lackiert, gar vergeblich als russischen Wolga: "Die fuhren in der DDR noch lange als Taxi." Der erste Volvo P 140 ist mit seinem wenig markanten Chromgrill etwas gesichtslos, erst mit dem 71er Facelift wird er zur charismatischeren Erscheinung. Die diagonale Volvo-Banderole samt maskulinem Markenemblem sorgt auf einmal für viel mehr Identität.

Sachlich geformte und technisch robuste Mittelklasse-Autos der siebziger Jahre fahren immer noch in der Endlosschleife unserer Erinnerung umher, als prägten sie das Straßenbild scheinbar weiterhin. Einem Mercedes Strichacht geht es ebenso wie dem Volvo oder dem Audi 100 LS der ersten Generation.

War es nicht erst vorgestern, als wir mit einem angerosteten Rest-TÜV-Exemplar zu viert nach Amsterdam fuhren oder an die Côte d'Azur, stets einen Fünfliter-Kanister vom Großmarkt im Kofferraum? Nur zuverlässige und geräumige Autos kamen für solche Touren in Frage. Einen afrikaerprobten Peugeot 504 hätten wir jederzeit mit Kusshand genommen, schon beim Renault 16 zögerten wir misstrauisch, dann noch eher einen Fiat 125.

Orthopädische Sitze im Volvo 144

Lange Strecken waren im Volvo 144 nie ein Problem. Er hat bequeme, orthopädisch vorbildlich geformte Sitze, und in seinem kantigen Heck verbirgt sich ein Riesenkofferraum mit gleich zwei Reserveradmulden. Die Rückbank sitzt wegen des knappen Radstands zwar ziemlich genau über der Hinterachse, dennoch zeigt sich der Fond erstaunlich geräumig. Er erfüllt die Kriterien eines bequemen Reisewagens. Ein Musterbeispiel dafür ist er nicht, denn er ist oben heraus zu laut und zu wenig komfortabel.

Die hintere Starrachse des Volvo 144 versetzt gern und macht aus dem 144er keine Sänfte, und der simpel konstruierte, immerhin fünffach gelagerte Vierzylinder hält sich nur bis 120 km/h einigermaßen zurück. Er signalisiert damit indirekt sein ideales Autobahn-Wandertempo. Da bleibt der Verbrauch noch unter 10 Liter und die Drehzahl des Kurzhubers noch im Motor schonenden Bereich. Was der Volvo 144 an feiner Fahrkultur in Komfort und Straßenlage vermissen lässt, das macht er mit Verlässlichkeit, Solidität und Anspruchslosigkeit mehr als wett.

Unser Foto-Volvo 144 war lange in schwedischer Ersthand, das Zählwerk des Breitbandtachos zeigt 364.521 Kilometer - und dies nachweislich mit dem ersten Motor, Typ B20 A. Der Zweiliter begnügt sich anders als der 100 PS starke S mit nur einem Stromberg-Gleichdruckvergaser, 82 PS bei 4.700/min bedeuten eine ganz und gar unaufgeregte Kraftentfaltung. Lässiges Ankommen geht hier vor verspielten Gaspedal-Einlagen.

Unten kräftig, oben zäh

Der gusseiserne Klotz schiebt mit typischem Volvo-Scharren kräftig aus dem Drehzahlkeller, zeigt sich aber oben heraus zugeschnürt und unwillig. Kräftige Vibrationen mahnen zu raschem Hochschalten, was mit der exakten Schaltung, die ein wenig Nachdruck erfordert, ein Vergnügen ist. Der lange Schalthebel des Volvo 144 lässt ein Rührwerk ahnen, aber das Getriebe - in unserem Fall ohne damals aufpreispflichtigen Overdrive - fühlt sich britisch an. Wie übrigens der ganze Wagen, von der Karosserieperfektion und grundsoliden Elektrik einmal abgesehen, ein Engländer sein könnte.

Eine MG B-Limousine, eine moderne MG Magnette mit knorrigem Motor und robustem Fahrwerk, beide sind heftige Untersteurer im Grenzbereich, bis sie es sich plötzlich anders überlegen und mit dem Heck rumkommen. Das einzig Sportliche an ihnen ist ihre Unverwüstlichkeit, man kann mit ihnen hart an die Grenzen gehen, ohne dass sie aufgeben. Ein Vergaser mehr, ein Fächerkrümmer und ein Sportluftfilter, mit ihnen lässt sich preiswerte Power erzeugen.

Buckel und Amazon machten es vor, sie balgten sich schon gerne mit den Briten, ihre Technik ist die artverwandte Vorstufe zum Volvo P 140. Aber selbst als spät etikettiertes Sportgerät fühlt sich der Volvo 144 wohl grob missverstanden. Sicherheit und Nachhaltigkeit sind seine Botschaft. So erreichte er in den Jahrzehnten seiner aktiven Laufbahn eine Lebensdauer von im Schnitt 12,6 Jahren, wie es der schwedische TÜV "Bilprovning" attestierte.

Volvo 144 - "weil man ihn wirklich liebt"

Eine Anzeige aus den frühen Siebzigern mit der provokanten Überschrift "Mein unverschämtes Verhältnis" pries die besonderen Tugenden des Volvo 144. Ja, es drückt das Lebensgefühl mit diesem kumpelhaften Typ aus. Eine attraktive, nicht mehr ganz junge Frau stützt sich mit verliebtem Blick auf seiner Motorhaube ab. Sie erzählt von ihrer Begegnung mit dem Volvo. "Der letzte Urlaub war nass. Stockholm sah aus wie ein schlechtes Schwarzweiß-Foto - grobkörnig und verwaschen. Ich fuhr das erste Mal Volvo. Ein merkwürdiger Wagen, irgendwie ehrlich, verlässlich und sicher. Ich verglich ihn mit einem Mann, den man zuerst gar nicht mag, aber dann doch heiratet, weil man ihn wirklich liebt."

Dieses unnachahmliche Volvo-Gefühl wohltuender Geborgenheit stellt sich auch im grauen Volvo 144 De Luxe rasch ein und nicht nur nachts bei Regen. Die hohe Gürtellinie mit den kastenförmig ausgeformten Geldschranktüren vermittelt dies ebenso wie die großen Fensterflächen und die steile Sitzposition hinter dem großen Bakelit-Lenkrad. Man hat den Wagen im Griff, alles, Lenkung, Kupplung, Schaltung und Bremse, geht ein bisschen schwergängig, doch das macht es eindeutig.

Der Wagen antwortet dem Fahrer, lässt ihn nie mit seinen Reaktion im Unklaren. Selbst die Schalter und Rändelräder rasten hörbar ein. Sie wirken wild verstreut und sind ungefähr das Einzige, das an diesem erfreulichen Wagen nicht ganz durchdacht scheint. So ein Volvo 144 ist ein spannendes Mittelding zwischen Tradition und Moderne. Obwohl er sich formal zeitlos zeigt, muss man ihn mit Nachdruck fahren wie einen knorrigen alten Briten. Technisch im Grunde konservativ nach striktem Amazon-Rezept mit sturem OHV-Motor, Doppelquerlenkerachse vorn und Starrachse hinten. Im Detail aber intelligent und voll auf der Höhe der Zeit gemacht. Dabei gibt er sich unerhört schrauberfreundlich und bar aller technischer Allüren.

Auf dem neusten Stand der Sicherheitstechnik

Vier Scheibenbremsen, Verbundglas-Frontscheibe, Sicherheitstank über der Hinterachse, Kopfstützen und Automatikgurte imponieren beim Volvo 144 ebenso wie eine Motorhaube, die von selbst hält, Türen, die 90 Grad weit öffnen und ein Wendekreis, der U-Turns in der 30er-Zone erlaubt.

Selbst die Starrachse des Volvo 144 gibt sich mit Schraubenfedern und Längslenkern Mühe, einigermaßen komfortabel und fahrsicher zu sein. Ein Mercedes Strichacht, etwa ein 200er, kann objektiv vieles besser. Er fährt sich müheloser und präziser als der Volvo, ohne weniger passive Sicherheit zu bieten, doch er hat viel weniger Charisma.
Der Motor rasselt im Leerlauf, ein beherzter Griff legt den ersten Gang ein, kurze, kräftige Tritte auf breite Lastwagen-Pedale - der Volvo fährt los. Ob zum Supermarkt, zum Klassentreffen oder zum Polarkreis, das ist ihm egal