Wartungsheft eines Dauerläufers

Abgestempelt - mit knapp 700.000 km

Der Mercedes 300D hat es hinter sich, zumindest in Europa. Eingeschlagene Seitenscheibe, Rost rundum. Das Wartungsheft liegt auf dem Sitz. Es erzählt von einem langen Lebenslauf ohne Happy End.


Mercedes 300 D, Heckansicht Foto: Isabell Eckardt 8 Bilder

Es sieht abgegriffen aus und hat ein paar Wasserflecken abbekommen. Die Tinte, die seitenweise Ölsorte und Kilometerstand dokumentiert, ist manchmal verlaufen, aber die Zahlen kann man noch lesen. Die Ecken des Papiers sind weich geworden, die silberne Folie löst sich schon. Das Wartungsheft lag auf dem Beifahrersitz, von Sekuritglaskrümeln umgeben, die in der fahlen Sonne wie Straßsteine glitzern. Autofledderer, die Reserverad, Wagenheber, Fußmatten und Becker-Radio mitgehen ließen, wühlten es aus dem Handschuhfach.

Held des Alltags mit fast 700.000 km

Bis ich es fand und vorsichtig barg, weil es mir gefiel, dieses banale Heftchen, das eigentlich nur eines von Millionen Autoleben dokumentiert, aber irgendwie besonders schien. So wie ein Artefaktum von der Titanic. Der Wagen, ein Mercedes 300 D in seltenem Impala-Metallic mit Velourspolstern war nicht zu retten, nicht zu kaufen. Er stand auf einem Abbruchgrundstück, Rainfarn schickte sich an, ihn langsam zu umwuchern. Wenn der Shipment-Zettel „Destination Cotonou, Benin“ in der Windschutzscheibe hinter einem aufgesprayten roten X im Kreis klebt, gibt es sowieso kein Zurück mehr. Aus und vorbei.

Selbst ich, der absolut Schmerzfreie, der gerne Autos gegen eine Handvoll Euro rettet und in abgerockten Mercedes-Schlitten durch die Gegend cruist, muss dann kapitulieren. Unter den Schonbezügen lugt Velours Brasil hervor. Mein Blick streift das Kombi-Instrument, der Tacho zeigt gigantische 688.174 km. Einmal zum Mond und zurück, wenn man die kürzeste Entfernung zwischen Planet und Trabant berücksichtigt.

Ein wahrer Held des Alltags, der mir mit all seiner morbiden Vergänglichkeit mehr Respekt abnötigt als ein Premium-Neuwagen mit 400 PS. Der niedrig drehende, gering belastete Sechszylinder im 300 D (Literleistung zahme 37,3 PS) ist prädestiniert für solch einen kosmischen Marathon. Der begann mit der Auslieferung des Wagens am 10. Mai 1991 durch die Mercedes-Benz-Niederlassung Augsburg. Sein Besitzer, ein Mann mit Namen Georg Unverdorben, Jahrgang 1918, hat die wichtigsten Angaben zu A-MW 853 und seine Anschrift auf Seite 2 im Wartungsheft mit akkurater Handschrift im Sütterlin-Stil festgehalten.

Nur acht Extras geordert

Der Neupreis des 300 D betrug einst 58.738,50 Mark. Nur acht Extras sind über die auf der letzten Seite des Wartungsheftes eingeklebte Fahrzeugdatenkarte dokumentiert: Metalliclack 441, elektrisches Schiebedach, Radio Becker Europa 2000 mit Antenne und vier Lautsprechern, Fensterheber vorn, ein verstärkter Fahrersitz und Radzierblenden in Flankenschutzfarbe.

Der Verzicht aufs Typenschild wird mit der kostenlosen Sonderausstattung Code 260 belohnt, und wer wie Georg Unverdorben für stolze 2.661,90 Mark plüschige Velourspolster bestellte, bekam die Kopfstützen im Fond gleich mit dazu. Bei Leder kosten sie hingegen extra, nur ein Beispiel für das unergründliche Mysterium der alten Mercedes-Preislisten im Taschenformat, die gerne mal mit 33 Fußnoten operieren. Das verschreckt den Kunden, fordert aber den Kenner geradezu heraus.

Jahresfahrleistung von knapp 35.000 km

In der Blüte seiner Jugend erlebte der 300 D noch offiziellen Kundendienst beim Augsburger Mercedes-Vertreter Riesenegger, seine Fahrleistung ist da noch unauffällig, gerade einmal 10.000 km pro Jahr. Erst mit einem Besitzerwechsel im Frühjahr 1994 schnellt die Kilometerleistung zunächst auf rund 20.000 hoch, um dann bis auf knapp 35.000 über 18 Jahre konstant zu bleiben. Ein freier, auf Mercedes spezialisierter Kfz-Meisterbetrieb namens Riegel übernimmt den Service für den großen Diesel bis zum Schluss. Am 21. April 2011 erfährt Fahrgestell- Nr. 525895 den letzten Ölwechsel.

Wolfgang Riegel hatte seine Eigenheiten, von denen das Wartungsheft erzählt. Meist trug er die Servicedaten fein säuberlich mit Füllhalter ein, und als das Heft bei 300.000 km zuende war, stempelte er die Rückseiten pragmatisch von hinten durch.

Der TÜV setzte dem 300D in Deutschland das Ende

Nach dem weit überzogenen letzten Intervall von knapp 35.000 km strandet der Marathonläufer schließlich im Lechhauser Vorortgrün eines libanesischen Exporteurs. Riedel erinnert sich später gut an den Mercedes-Besitzer, der als Fernpendler rund 33.000 Kilometer im Jahr abspulte: „Er konnte sich einfach nicht von dem zuverlässigen Wagen trennen, aber der fällige TÜV wäre sehr teuer gekommen.“ Langsam setzt Nieselregen ein, ein feiner Tropfenschleier weht durch die kaputte Seitenscheibe. Hätte ich eine Plastiktüte im Auto, würde ich das Fenster abkleben. Solch späte Demütigung hat der Abgeschobene nicht verdient.

Sinnierend schleiche ich um das Auto herum. Rechne grob aus, wie viel Diesel hinter der Tankklappe reingeflossen ist, es müssen um die 57.000 Liter sein, bei etwas über acht Liter auf 100 km. Stelle mir vor, ob er wohl noch anspringt, als mich eine laute Stimme wieder zurückholt: „Hallo is nix zu verkaufe, Export Afrika!“ Als ich eine Woche später nach ihm sehen will, ein verrücktes Auslöse-Angebot im Kopf, steht er nicht mehr da. Am Boden ist nur noch ein dunkler Dieselfleck vom Abpumpen aus dem Tank. Selbst den letzten Rest haben sie ihm genommen.