Autos, die man nicht vergisst - Rolls-Royce Silver Wraith

Alpina-Chef als Butler James

Für Motor Klassik erinnert sich Klaus Westrup an einen Bodenseeausflug, bei dem er ausnahmsweise im Fond Platz nahm. Alpina-Chef Burkhard Bovensiepen kutschierte ihn in einem Rolls-Royce Silver Wraith Jahrgang 1954.

Rolls-Royce Silver Wraith, Baujahr 1954 Foto: Archiv 4 Bilder

James trägt Dienstkleidung. Mütze, Jacke und die weißen Handschuhe stammen von Moss Brothers, dem feinsten Dienstboten-Ausstatter in London. Seine Bewegungen wirken sicher und gewandt - als käme er gerade von der School of Instruction, wo man den richtigen Umgang mit einem Rolls in zweiwöchigen Kursen perfekt erlernen kann.

Die Laufkultur der noblen britischen Marke ist nicht nur Erzählung, sondern Legende

Es ist ein heißer Sommertag Mitte der achtziger Jahre. Wir wollen von Buchloe im Allgäu nach Lindau an den Bodensee fahren, runde 100 Kilometer, natürlich auf Landstraßen. Der alte Silver Wraith mit seinem monumentalen Kühlergrill und der sanft gerundeten, fetten Heckpartie steht schon bereit. Trotz pechschwarzer Lackierung widersetzt er sich auch ohne Klimaanlage mit seinen kleinen und größtenteils senkrecht stehenden Scheiben erfolgreich der Aufheizung des Innenraums. Ich sitze mit übereinandergeschlagenen Beinen im Fond-Abteil. Welch verschwenderische Fülle! Ein leichter Ruck geht durch die Hooper-Karosse, dann wieder Stille. James hat den Motor angelassen, einen 4,6 Liter großen Sechszylinder, mit 114 mm Hub bei 92 mm Bohrung extrem langhubig ausgelegt. Die über einen Stromberg-Vergaser versorgte Maschine arbeitet wechselgesteuert. Während das Einlassventil im Zylinderkopf hängt, versucht das Auslassventil seiner Arbeit stehend nachzukommen. Die Brennraumform ist zerklüftet und uneffizient. Milde Verpuffungen werfen die Kolben in die Tiefe, eine offizielle Leistungsangabe gibt es traditionell nicht.

James kennt sich aus mit Reihensechszylindern und schätzt, dass es maximal 100 PS sind, die hier auf zweieinhalb Tonnen Wagengewicht treffen. Ich lehne mich zurück, während James dem Automatikgetriebe per zierlichem Handhebel den Befehl gibt, den Kraftfluss nach Süden auszurichten. Beim Anfahren hebt sich der Rolls vorn ein wenig aus den Federn, doch zu hören ist nichts - keine Wechselsteuerung, kein Ansaugen, kein Auspuffen. Die Laufkultur der noblen britischen Marke ist nicht nur Erzählung, sondern Legende. Die Automatik zupft ein wenig beim Hochschalten, James ist das unangenehm. "Die Bremsbänder", ruft er ins weit entfernte Rücksitz-Abteil, "sie müssen eingestellt werden." Wir schwenken in die Bundesstraße und gehen auf Reisetempo. Kaum mehr als 50 Miles zeigt das in tiefem, teuren Wurzelholz steckende Smith-Instrument.

Auch ein Rolls-Royce ist nicht unfehlbar

Sollen die anderen doch schneller fahren, die, die sich keinen alten Silver Wraith leisten können. Wie Insekten jagen diese Autos vorbei, aber sie haben alle den besseren Geradeauslauf. Der alte Rolls kämpft mit den Spurrillen, James leistet mit seinen weißen Handschuhen fortwährend Korrekturarbeit an dem dünnen schwarzen Lenkrad mit seinen drei Speichen. Erste kurze Rast an der sommerlichen B 83, der in einem Begleitwagen mitfahrende Fotograf hat etwas zu vermelden. Es ist keine der üblichen Klagen (Auto zu schwarz, Licht zu hell, Verkehr zu dicht), sondern eine Schadensmeldung. "Wenn links geblinkt wird", sagt Hans-Peter Seufert, "blinkt es rechts. Und ebenso umgekehrt." Gut zu wissen und leicht zu korrigieren. Auch ein Rolls-Royce ist nicht unfehlbar, vielleicht sogar gerade ein Rolls. Immerhin, eine wirkliche Panne ist der Elektro-Defekt des Silver Wraith nicht, der leise seine Bahn zieht wie sein eigener Shadow.

Ein kleines Holzschränkchen begrenzt den Knieraum nach vorn, ich prüfe unbemerkt von James den Inhalt. Vier Kristallgläser sind drin und zwei Flaschen Rotwein vom Besten, ein Château Latour und ein Château Mouton Rothschild. Draußen zieht sanft die Landschaft vorbei, Arbeiter an einer Baustelle senken angesichts der lautlos herannahenden schwarzen Erscheinung andächtig ihre Bierflaschen. Es ist immer noch kühl im Fond. Lediglich eine Fliege, die wohl während der Rast zugestiegen ist, stört den Frieden. Sie ahnt nicht, in was sie gerade gefahren wird und summt so gewöhnlich wie in einem Seat. James überholt selten, denn es gibt nicht viel zu überholen. Die meisten sind schneller als wir und haben es eilig. Ein schneidendes Geräusch dringt ins Interieur, zunächst undefinierbar. Es ist ein lärmender kleiner Zweitakter, James hat ein Moped überholt. Dies sind die einfacheren Manöver, bei Lastwagen wird es schwieriger. Der Rolls ist rechtsgelenkt, Übersicht und Leistungsgewicht sind schlecht.

Auf unseren 100 Kilometer verheizt der Rolls Royce Silver Wraith 25 Liter

"Frei?", fragt James unter seinem Mützenschirm. "Augenblick", antworte ich, verlasse die schattige Ecke rechts hinten, durchmesse mit wenigen Schritten den Knieraum und verschaffe zusätzlichen Überblick über möglichen Gegenverkehr. Behäbig wechselt der alte Wagen auf die Überholspur, James hat das zierliche Gaspedal in Richtung Bodenblech versenkt, der antiquierte Sechszylinder antwortet auf die ungewohnte und völlig unerwartete Anstrengung mit einem dumpfen Schlürfton. Ein wenig Beschleunigung ist durchaus zu spüren, viel ist es aber nicht. Man sieht die Welt aus dem Silver Wraith, zumal aus dem Fond-Abteil. Die Bauern mähen die Wiesen, Heugeruch dringt durch ein geöffnetes Fenster in den nobel gestalteten Innenraum.

Wir sind jetzt eine Stunde unterwegs, links erscheinen die Alpen im Bild, und dass sie ein bisschen wackeln, ist ohne Bedeutung. Der alte Rolls hat eine neue Spurrille entdeckt, James kontert routiniert, die Gebirgskette beruhigt sich. Die Straßen werden schmaler, die Berge steiler. Steigungsprozente mag die Maschine nicht, in den unförmigen Brennräumen herrscht Hochbetrieb. Obwohl das Temponiveau kaum über dem eines Citroën 2 CV liegt, werden sie auf unserer 100 Kilometer langen Exkursion 25 Liter verheizt haben. Dann eine Anhöhe vor den Toren Lindaus, der Wraith parkt unter schattenspendenden Kastanien, die noch älter sind als er. Über der Kühlerfigur Emily wabert die Hitze, James serviert dekorativ auf einem silbernen Tablett ein Gläschen vom Rothschild’schen Rotwein. Auch in einem Rolls-Royce ist der beste Platz an der Theke.

Wer ist eigentlich James?

Bleibt nur noch eine Frage: Wer ist eigentlich James? Es ist kein Geringerer als Burkhard Bovensiepen, heute Senior-Chef von Alpina, jener Firma, die seit Jahrzehnten BMW-Automobile schneller, edler und teurer macht. Bovensiepen erinnert sich spontan an unsere Bodensee-Exkursion, den Rolls gibt es immer noch. Er ist endgültig auf dem Altenteil. Läuft er noch? "Ganz selten", sagt der Mann, der James war.