Die wilden Jahre der Gruppe B

Vitamin B

Auch ein Vierteljahrhundert später lässt uns die Zeit nicht los, in der es mehr Krafttraining und Doping gab als je zuvor.

Ralley, Menachenmassen , Audi der B-Gruppe Foto: McKlein 26 Bilder

Die Vitamine der Gruppe B beugen Herzschäden und Muskelschwund vor. Sie helfen beim Energiestoffwechsel und bei der Blutbildung. Deren acht kennt das Physiologie- Buch, wenn man den schulmedizinischen Lehren Glauben schenken mag. In Wahrheit gab es aber mal 15 B-Vitamine - sie verursachten Herzrasen, Ohrensausen, Netzhautflimmern, einen stark erhöhten Adrenalinspiegel sowie die unkontrollierte Ausschüttung von Endorphinen. Das kann nicht gesund sein, denkt sich selbst der Laie, um dann listig zu fragen: Wo kriege ich das Zeug?

Nach dem Standardwerk folgt die monumentale Rallye-Bibel

Einer der außergewöhnlichsten Effekte der B-Gruppe ist die Langzeitwirkung. Seit 25 Jahren sind alle Präparate vom Markt genommen, dennoch bleiben die Symptome erhalten. So ging es auch Reinhard Klein. Als Fotograf in der Rallye-Weltmeisterschaft machte er die vierjährige Vitamin-B-Kur mit höchster Intensität mit. Die Überdosis führte noch ein Jahrzehnt später zu Muskelzucken und Schlaflosigkeit. Schließlich brach er in sein eigenes Bildarchiv ein, riss die Schubladen auf und durchwühlte die Hängeregister nach den Fotos der achtziger Jahre.

Reif war die Zeit erst nach zwei Jahrzehnten mit eigenem Buchverlag und Internetvertrieb. Mit dem englischen Journalisten John Davenport produzierte er ein Gruppe-B-Buch. Groß, quadratisch, 252 Seiten stark - alle Jahre, alle Autos. Ein Standardwerk.

Doch statt Erlösung fühlte Klein noch mehr Unruhe. "Beim Recherchieren sind wir auf 20 bis 30 weitere Geschichten gestoßen, die im Bild existieren, aber nie richtig erzählt wurden." Klein besitzt selbst ein Gruppe-B-Auto vom Typ MG Metro 6R4, er veranstaltet Oldtimer-Rallyes mit Gleichgesinnten und kennt mindestens 50 Besitzer weiterer Boliden.

Das Buch passt perfekt zum Thema - es  ist Wahnsinn

Es entstand die verwegene Idee, ein anderes Buch zu machen, vier mal dicker. Die "Owners Edition", die keine Wünsche mehr offen lässt. Ein Buch, das kein Limit kennt - weder bei den Themen, noch bei den Ausmaßen. 1.000 Seiten für 1.000 Euro, ein Projekt, das jeden Verleger den Wachdienst rufen lässt, um den Autor vor die Tür zu setzen. Wenn dieses Buch Wahnsinn ist, dann passt es prima zum Thema.

Es begann alles im Jahr 1980, als ein hochrangiger FIA-Funktionär zu dem Schluss kam, dass es so nicht weiter gehen könne. Wer mit einem Fiat Mirafiori an der Ampel steht, kann bei Grün keinen Porsche abhängen - warum also soll das im Rallyesport möglich sein? Und so kam die oberste Motorsportbehörde zu dem Schluss, dass das seit 1966 geltende Reglement das Verfallsdatum überschritten habe. Revolutionär, wie ein verknöcherter Funktionärsladen nur sein kann, ersetzte man die Grup pen mit den Ziffern eins bis vier nun gegen die Buchstaben A, B und C. Letzterer sollte den Sportprototypen in Le Mans vorbehalten bleiben, für den Rallyesport galt nun die seriennahe Gruppe A und die verbesserten Autos der Gruppe B. Musste ein Hersteller zuvor noch 400 Serienautos bauen, um ein Rallyegerät höchster Güte zu homologieren, waren es nun nur noch 200.

Erlaubt war in der Gruppe B alles, was machbar war

Dazu gab es alle möglichen Freiheiten bei den Maßen, der Anzahl der Sitze, den aerodynamischen Hilfen. Erlaubt war nahezu jedes Motor- und Antriebskonzept. Am 1. Januar 1983 trat das neue Reglement nach einigem politischen Hickhack in Kraft. Wer wie Audi mit seinem Quattro bisher ein Gruppe-4-Auto hatte, schrieb dies einfach auf die neue Einteilung um.

Das erste echte Gruppe-B-Auto war ein Lancia. So richtig glücklich war man in der Sportabteilung in Turin nie gewesen, als die Mittelmotorrakete Stratos auf Druck der Marketing-Abteilung dem spießigen Fiat 131 weichen musste. Dessen Rallye-Version war auf manchen Strecken langsamer als ein Serien-Stratos. Und so träumten Sportchef Cesare Fiorio und Technik-Chef Sergio Limone wieder von über Gitterrohrrahmen gespannten Plastikhäutchen, Mittelmotor und Kompressor - ein Fliegengewicht mit dem Punch eines Schwergewichtlers. Der 037 war so flach, dass die Rallyeversion Beulen im Dach trug, um die langen Werksfahrer Walter Röhrl und Markku Alén unterzubringen.

Auf Asphalt war das geduckte Ding ein Hammer, auf Schotter immerhin schnell genug, um sofort abzustauben, wenn die Allradfraktion mal wieder an sich selbst scheiterte. Tatsächlich holte Lancia im ersten Jahr der Gruppe B die Marken-Weltmeisterschaft, weil die Audi zu oft zerbröselten.

Sicherheit war nachrangig

Der Preis für die Konkurrenzfähigkeit war die Sicherheit. Die dünnen Stahlröhrchen des Käfigs hielten nicht viel ab. Prompt brach sich Italiens Hoffnung Attilio Bettega schon 1982 in einem 037 die Beine und war ein halbes Jahr außer Gefecht.

Zunächst lief alles noch halbwegs gesittet ab, vor allem, weil einige Hersteller den Schuss nicht gehört hatten. Ford hatte zunächst einen Escort Turbo mit viel Plastik und Doppelscheinwerfern auf die Räder gestellt und übersehen, dass mit Hinterradantrieb ja vermutlich gar nichts mehr zu gewinnen war. Selbst Lancia kam nach dem erfolgreichen Auftaktjahr bei einer verschneiten Monte unter die Räder. Opel rutschte chancenlos mit dem Manta 400 herum, Nissan mit dem 240 RS.

Entschuldigt bei der Heckschleuder-Fraktion ist nur Toyota. Der Celica Turbo hatte mit 360 PS genug Leistung. Zweitens war er kompromisslos simpel und unzerstörbar ausschließlich für die knüppelharten Afrika-Rallyes gebaut. Bei acht Rallyes in Kenia und der Elfenbeinküste holten die Autos aus Köln-Marsdorf sechs Siege. Außerhalb Afrikas traten sie nicht mehr an.

Peugeot 205 Turbo 16 war das Nonplusultra

Im Mai 1984 erhöhte sich die Schlagzahl vehement. Von langer Hand geplant hatte Peugeot ein Rohrrahmen-Auto auf Basis des Kleinwagens 205 vorbereitet. Wie der Lancia mit Mittelmotor, wie der Audi mit Turboaufladung und Allradantrieb, zudem mit variabler Kraftverteilung. Der 205 Turbo 16 holte zwei Titel und war aus dem Stand das Beste, was die Gruppe-B-Zeit je hervorbrachte. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass die Audi-Leute zwischen den Achsen 32 Zentimeter aus dem Quattro sägten, um ihn wendiger zu machen.

Weil das nicht funktionierte, setzte man auf Leistung. Dank Aufladung ohne jede Regelbeschränkung wuchsen die Lader und die PS-Zahlen. Zudem ließ die FIA zu, dass jeder Hersteller jährlich eine Evolution nachschieben durfte, von der nur jeweils 20 Stück zu bauen waren.

Spätestens das öffnete dem Irrsinn die Tore. Aus den Technikabteilungen wurden Bodybuilding-Studios. Den Autos wuchsen immer dickere Backen. Von Spoilern konnte in der Endphase keine Rede mehr sein. Der MG Metro trug gekappte Formel-1-Flügel von Williams, dem Audi wuchs ein Schneepflug, dem Peugeot ein Surfbrett auf dem Dach. Die Hässlichkeit hielt Einzug.

Röhrl gewinnt dank pumpendem Geistdörfer

Dennoch gewann der Sport an Faszination. Die äußeren Geschwüre und die inneren Auswüchse weckten die Lust am Gruseln wie früher auf dem Jahrmarkt die Frau ohne Unterleib. Dazu kamen für das Publikum die Sinnesfreuden. Bei jedem Schaltvorgang fegten Feuerlanzen aus den Auspuffrohren, die Motoren brüllten wie angeschossene Dinosaurier, die Turbos fauchten wie Drachen. Reifen, Stoßdämpfer und Bremsen waren noch von gestern und mit der unfassbaren Kraft völlig überfordert.

Walter Röhrl gewann mit seinem 550 PS starken Quattro E2 in San Remo 1985 nur, weil Beifahrer Christian Geistdörfer per Pedal ständig die Wasserpumpe zum Kühlen der Bremsen aktivierte.

Hitze war ohnehin ein großes Thema. Malcolm Wilson trainierte im Ford RS 200 vor allem das blitzschnelle Verlassen desselben, denn er brannte gern und oft, sah aber toll aus. Dass die Autos zum Schluss nur noch von einer Handvoll Piloten zu beherrschen waren, nahm das Publikum in Kauf. Jede Kurve Kampf, wüste Drifts auf jedem Belag, in unter drei Sekunden von null auf 100, Topspeed 238 - und das Volk stand direkt daneben, war berauscht und rückte noch ein bisschen näher.

Am Ende fuhr der Tod immer mit

"Es war nicht alles schön", sagt auch Reinhard Klein. "Am Ende fuhr der Tod ja immer mit." Die Party war vorbei, als 1986 einer dieser Ford nur einen Monat nach dem Debüt in Portugal in eine Menschenmenge rutschte. Vier Zuschauer starben, die Werksfahrer streikten. "Wir sind doch keine Mörder", sagte Walter Röhrl.

Längst war geplant, die technischen Steroidkuren ab 1988 mit einer neuen Kategorie namens Gruppe S in vernünftige Bahnen mit mehr Sicherheit und weniger Leistung zu lenken. Doch es kam anders: Als Henri Toivonen und Sergio Cresto im Mai 1986 in ihrem Lancia Delta verbrannten, zog FIA-Chef Jean-Marie Balestre im Alleingang den Stecker aus dem Gruppe- B-Programm. 1987 waren nur noch seriennahe Gruppe-A-Autos zugelassen. Der Traum, der auch ein Albtraum gewesen war, war nach nur vier Jahren beendet.

Doch denen, die dabei waren, rollt immer noch der Donner durch den Gehörgang, blitzen immer noch die Flammen auf der Netzhaut. Und für die Verrücktesten unter ihnen ist das neue Gruppe-B-Buch gedacht. "Das ist für einen selbst auch eine tolle Reise in die Vergangenheit", sagt Reinhard Klein. Es ist ein bisschen wie beim gut situierten Ehepaar, das nach 25 Jahren beim Aufräumen des Kellers auf ein Päckchen Schwarzer Afghane stößt und sich mit dem Feuerzeug in die wilde Jugend zurückkatapultiert.

Nur 500 Exemplare des Buches gibt es. Jedes trägt die Unterschriften sämtlicher Superstars der Gruppe-B-Ära. Und auch bei denen lodert das Feuer wieder auf. Walter Röhrl verkündet stolz: "Beim Signieren war ich 55 Sekunden schneller als Stig Blomqvist."

1.000 Seiten für 1.000 Euro. 

Die Group B Owners Edition ist das mächtigste Rallyebuch, das je verlegt wurde. Fotograf und Verleger Reinhard Klein und Autor John Davenport planten zunächst 800 Seiten, am Ende fanden sich so viele Bilder und Geschichten, dass 1008 Seiten daraus wurden. Das zweibändige Werk im Format 35 x 33 Zentimeter wiegt mit Schuber zwölf Kilogramm. Zu den 800 Texten, 250 Originaldokumenten und einer umfassenden Statistik enthält der Doppelband 2.500 zum Teil bisher unveröffentlichte Fotos. Neben den 15 homologierten Gruppe-B-Autos finden sich auch Geschichten über nie eingesetzte Modelle und geheime Prototypen.

Die Auflage der Owners Edition ist auf 500 Stück limitiert, der Preis liegt bei 999 Euro. Für den schmaleren Geldbeutel empfiehlt sich die 252 Seiten starke Normalausgabe von Group B für 49,95 Euro. Beide Bücher sind zweisprachig (Deutsch/ Englisch) und erhältlich unter www.rallywebshop.de