Charta von Turin

"Es geht um Substanz"

Die Charta von Turin ist seit Januar 2013 in Kraft. Am Beispiel eines unrestaurierten Aston Martin DB2 zeigen wir die Grundzüge.

Aston Martin DB2, Seitenansicht Foto: Hardy Mutschler 19 Bilder

So war es auch vor sechs Jahren: Die Spätherbstsonne taucht das Schweizer Örtchen oberhalb des Thuner Sees in goldenes Licht. Unter dem Vordach der Werkstatt von Franz Hatebur steht ein fast sechzig Jahre alter Aston Martin DB2 in Französisch-Grau - unrestauriert. Nur auf den zweiten Blick erkennt er kleine Lackausbesserungen und feine Risse.

"Den restauriere ich nicht, der ist zu gut"

Im Motorraum zeigen sich die Spuren der Zeit deutlicher, aber alles ist  noch originale Substanz. "Den restauriere ich nicht, der ist zu gut", sagte Hatebur damals und erinnert sich: "Ich bekam große Angst, mit meiner Haltung einen guten Kunden zu verlieren." Hateburs Kunde hatte den DB2, einen von 390 gebauten Coupés, auch wegen der Farbe gekauft: "Die war Anfang der Fünfziger sehr modisch". Alle Autos aus dessen Sammlung sind in einem sehr guten restaurierten Zustand: Das hatte er sich auch für seine Neuerwerbung vorgestellt.

"Einen so gut erhaltenen DB2 hatte ich noch nie gesehen", schwärmt Hatebur. Der Motorraum zum Beispiel ist in der hellen Wagenfarbe lackiert, weshalb man im Gegensatz zu den bei anderen Exemplaren häufig schwarz lackierten vorderen Rahmen alle Einzelheiten sehen kann. Erhalten blieben auch die nachträglich um 1957 angebauten Spiegel und Blinker: "Das war damals Pflicht."

Restaurierer sollen es leichter haben

Restaurierer wie Franz Hatebur sollen es mit der Charta von Turin künftig leichter haben, ihren Kunden die Erhaltung eines Originalzustands schmackhaft zu machen - als "Leitlinie zum verantwortungsvollen Umgang mit einem historischen Fahrzeug". In einem von FIVA-Präsident Horst Brüning initierten Schreiben an Motor Klassik heißt es weiter: "Es ist der oberster Grundsatz, dem Fahrzeug seine Geschichte zu belassen. Ein Aussehen ‚Besser als Neu‘ ist nicht erwünscht." Auch auf die Frage nach dem Umgang mit dem DB2 von Hateburs Kunden liefert die Charta von Turin der FIVA eine klare Antwort: "Ein historisches Fahrzeug soll sein Aussehen und seine Spezifikation behalten."

Der Aston Martin DB2 mit der Chassisnummer LML/50/150 ist natürlich ein Idealfall: Er ist deshalb so gut erhalten, weil er stets perfekt gepflegt wurde. Erstbesitzer war der Züricher Klinikarzt Dr. H. J. Kalberer, der den englischen Sportwagen zunächst für fünf Jahre ohne Zulassung in der Garage von Max Heidegger in Liechtenstein parkte: trocken und im Winter beheizt. Im Frühjahr 1957 wurde der DB2 zum ersten Mal angemeldet.

"Lieber den Lack nicht polieren"

Nach 27 Jahren kaufte Heidegger, der sich nicht nur als BMW-Tuner, sondern auch als DB2-Restaurierer einen Namen gemacht hatte, Kalberers DB2 - übrigens eines von geschätzten 40 Exemplaren, die an Schweizer Erstbesitzer ausgeliefert wurden. Heidegger überholte den Motor, fuhr das Auto wie der Erstbesitzer aber nur selten und ausschließlich bei trockenem Wetter. Als der heutige Besitzer das lindfarbene Coupé 2006 übernahm, zeigte der Kilometerzähler "69.800". "Farbe (Nitro), Interieur und Teppiche sind original", bestätigte Max Heidegger.

"Ich empfehle, das Auto nicht zu polieren, weil Nitrofarbe sich auflöst und kaum mehr Autolackierer diese Farbtechnik beherrschen", gibt Heidegger dem neuen Besitzer auf den Weg. Das klingt nach Schwierigkeiten beim Umgang mit dem Auto. Außerdem sind die roten Ledersitze wie auch der gleichfarbige Teppich original, zeigen aber Abnutzungsspuren. "Obendrein muss man sehr vorsichtig damit umgehen, um bei der Nutzung so wenig wie möglich zu beschädigen", betont Hatebur. Also doch eine Vollrestaurierung?

Schließlich möchte der Besitzer mit dem Auto fahren - für Hatebur kein Widerspruch: "Die Oldtimer gehören nach wie vor auf die Straße, wir wollen ja keine Museumsfahrzeuge daraus machen". Das ist auch ein Ziel der neuen FIVA-Charta: "Historische Fahrzeuge können nur dann wirklich erlebt werden, wenn sie regelmäßig und auf öffentlichen Straßen gefahren werden."

Mobile Zeitzeugen bewahren und Charakter beibehalten

Diese Angst, dass aus einem mobilen Zeitzeugen ein historisiertes Stehobjekt wird, soll den Besitzern genommen werden. Ohne die Charta musste Hatebur selbst gute Argumente finden, um seinen treuen Kunden davon zu überzeugen, den DB2 so zu belassen und das Auto in seine Obhut zu geben.

Zwei Arbeiten schlug der Restaurierer vor: Das Erneuern der Schutzschicht in den Radläufen und das Umrüsten auf originalgetreue Dunlop-Diagonalreifen Roadspeed RS5 in der Größe 6.00 x 16. Bei der Reifenwahl war der Kunde skeptisch - er wollte weiter die Avon-Reifen fahren. "Die sind aber vom Aufbau her moderne Reifen", weiß Hatebur. Nur mit den Diagonalreifen behält der Sportwagen aus den frühen fünfziger Jahren sein typisches Fahrverhalten.

Ungewohnt ist auch der Umgang mit den originalen Trommelbremsen des 1210 Kilogramm schweren Zweisitzers: Während einiger "Fahrstunden" gemeinsam mit Hatebur lernte der Aston Martin-Besitzer damit umzugehen.

"Ein makelloses Auto hat keine Geschichte mehr"

Als Franz Hatebur vor Kollegen einen Vortrag über den Umgang mit einem unrestaurierten Oldtimer halten soll, wählt er den Aston Martin DB2 seines Kunden als Demonstrationsobjekt aus. Auch der Besitzer sitzt unter den Zuhörern: So erlebt er, welches Interesse sein Oldtimer weckt. Dieser Eindruck gibt ihm wahrscheinlich den letzten Ruck, seinen DB2 im unrestaurierten Zustand zu belassen. Ein ganzes Jahr mit vielen Gesprächen auch mit weiteren Experten hat es gedauert, bis der Besitzer zustimmte.

Franz Hatebur ist erleichtert: "Mit einer Restaurierung wäre die ganze Geschichte des Autos verloren gegangen". Damit diese noch lange erhalten und geschützt bleibt, ist ein vorsichtiger, bedächtiger Umgang mit dem historischen Auto erforderlich. Der Schweizer unterstreicht noch einmal: "Ein makelloses Auto hat keine Geschichte mehr."

Fünf Fragen zur Charta von Turin

Warum schafft die FIVA ein Dokument zur weiteren Reglementierung von Oldtimern?

Mit der jetzt verabschiedeten Charta von Turin erstellt die FIVA zum ersten Mal ein grundlegendes, weltweit anerkanntes Dokument zum verantwortungsvollen Umgang mit einem historischen Fahrzeug. Sie reagiert damit auch auf Anforderungen von internationalen politischen Organisationen wie dem Europaparlament oder der UNESCO. Zudem fasst es Themen zusammen und präzisiert sie, die bereits im bestehenden Regelwerk der FIVA behandelt werden.

Konkrete Frage: Darf ich meinen Oldtimer zum Beispiel noch in eine Farbe umlackieren, die mir besser gefällt?

Ein Grundsatz der Charta lautet: "Ein historisches Fahrzeug soll sein Aussehen beibehalten." Der Oldtimer sollte also in seiner aktuellen Farbe bleiben. Wird aber ohnehin im Rahmen einer Restaurierung die Neulackierung fällig, kann man sich die Frage stellen. Es sollte aber in jedem Fall eine Lackierung sein, die zur Geschichte des Fahrzeugs passt.

Darf ich mein Auto künftig überhaupt noch restaurieren?

Die Restaurierung ist auch nach den Worten der Charta eine Möglichkeit neben der Reparatur und der Konservierung. Diese Frage kann immer nur gezielt je nach Zustand des jeweiligen Fahrzeugs beantwortet werden. Alle Arbeiten an Fahrzeugen sollen sorgfältig geplant sowie in Wort und Bild dokumentiert werden. Dabei sollten grundsätzlich originales Material und originale Technik angewendet werden.

Führen die Regelungen der Charta nicht zwangsläufig zu einer Preissteigerung für Arbeiten?

Das lässt sich sicher nicht pauschal sagen. Letztlich hängen die Kosten immer vom Umfang der erforderlichen Arbeiten ab. Da es im Grundsatz eher um das Erhalten als das Austauschen, Umbauen oder Erneuern geht, kann das bei bestimmten historischen Fahrzeugen sogar Geld sparen helfen.

Das klingt alles recht abstrakt. Wie kann die Charta in der Praxis angewendet werden?

Vorsitz von Thomas Kohler den Wortlaut der Charta von Turin ausgearbeitet hat, erstellt noch ein Anwendungshandbuch unter dem Arbeitstitel "Vademecum". Es soll künftig beim Beantworten von Detailfragen helfen.