Verleger Paul Pietsch wird 100

Leben zwischen Vollgas und Fortune

Der Rennfahrer und Verleger Paul Pietsch, Grand-Prix-Star und Gründer der Motor Presse Stuttgart, feiert am 20. Juni seinen 100. Geburtstag. Blick auf ein beispielhaftes Leben zwischen Vollgas und Fortune, das vom wilhelminischen Kaiserreich bis zum Amtsantritt des ersten grünen Ministerpräsidenten in Deutschland reicht.

Paul Pietsch, 16-Zylinder, 1984 Foto: Archiv 29 Bilder

Den Gehstock mag er überhaupt nicht, ebenso wenig wie etwa das Hörgerät. „Solche Sachen“, hat Paul Pietsch seinen beiden Kindern Patricia und Peter-Paul schon vor Jahren verkündet, „sind doch nur etwas für alte Leute.“

Als er dieses Urteil fällte, war der Rennfahrer und Verleger schon gut in seinen Neunzigern. Am 20. Juni 2011 steht nun ein Jubiläum an, das zu erleben nur sehr wenigen vergönnt ist: Der letzte noch lebende GP-Pilot aus der Ära der 1930er Jahre und der letzte große Verleger der Nachkriegsepoche wird 100 Jahre alt.

100 Jahre Genuss in vollen Zügen

Ein 100-jähriges Leben in eine Geburtstagsgeschichte zu verpacken, gerät zum Manöver ohne Aussicht auf Erfolg, jedenfalls, wenn es sich um ein in so vollen und erfolgreichen Zügen genossenes handelt wie bei Paul Pietsch. Was bleibt, ist der Versuch, mit dem Fernlicht der Erinnerung ein paar Stationen aus Leben und Werk dem Dunkel der Vergangenheit noch einmal zu entreißen und zu hoffen, dass die abgestrahlten Reflexionen die Persönlichkeit des Jubilars angemessen zu erhellen vermögen.

Obwohl die Chronologie der Ereignisse die Rennfahrer-Jahre vor das Dasein als Verleger stellt, ist hier zunächst die Begabung des Verlegers Pietsch zu illustrieren. Einer seiner Mitstreiter fasste die jahrzehntelange Zusammenarbeit mit ihm einst so zusammen: „Unser Verleger ist immer schon erwachsener gewesen als andere, selbst als er Rennen fuhr. Management-Modelle sind für Sportsmann Paul Pietsch allenfalls Szenarien für Sandkastenspiele, nicht fürs Geschäftsleben: Direkte Zugriffe auf Partner oder Untergebene sind ihm Verpflichtung. So gelang es ihm immer, gute Mitarbeiter um sich zu sammeln. Aus der internationalen Welt großer Rennerei brachte der erdverbundene Schwarzwälder jenes Flair mit, dessen Charme besticht. Speisekarten und Weinkataloge sind für ihn Sakral-Gegenstände – er behandelt sie so vorsichtig wie Gehaltslisten.“

Erdbeertorte für alle hat Tradition

Diese Charakterisierung entstammt der Festschrift zu Pietschs 80. Geburtstag, und an ihrem Gehalt hat sich die letzten zwei Jahrzehnte rein gar nichts geändert. Überhaupt, die Geburtstage des Verlegers im Verlag: An jedem 20. Juni gab es einst auf Kosten der Privatschatulle ein Stück Erdbeertorte für jeden Mitarbeiter, vom untersten Dienstrang bis hinauf zur Geschäftsführung.

Auch als mit dem ständigen Wachsen der Pietsch-Verlage immer mehr Torten gebraucht wurden für den Geburtstagsschmaus, behielt der Gründer des Motor-Presse-Verlags (MPV, 1946) und der Vereinigten Motor-Verlage (VMV, 1951) den bei der Belegschaft höchst beliebt gewordenen Brauch bei.

Die Erinnerungen an die folgenden runden Geburtstage zeigen einen vom Alter völlig unbeeindruckten Paul Pietsch. Der 85. im Stuttgarter Schützenhaus sah den Grandseigneur noch gegen Mitternacht im Kreise seiner Mitarbeiter feiern, und dann erst der 90. Pietsch dreht noch einmal eine Runde in einem Bugatti 35, ähnlich seinem ersten Rennwagen von 1932. Zunächst vorsichtig, im Park der alten Essener Villa Hügel: „Bugatti-Besitzer sind da oft eigen, wenn irgendwas passiert. Schon die Kurbelwelle allein hat 1932 rund 12.000 Mark gekostet.“ Dann aber wächst das Vertrauen in die früheren Fähigkeiten, die Haare fliegen, der Bugatti brummt, die Gangwechsel erfolgen geschmeidig und ohne Kratzgeräusch. Pietsch strahlt über das ganze Gesicht. Der Bugatti versetzt ihn für ein paar Runden im Park wie eine wunderbare Zeitmaschine zurück in seine Jugend.

Vom Bierhandel zum Rennfahrer und Verleger

Geboren 1911 im badischen Freiburg, lernte Pietsch schon früh den Begriff des Verlegers, allerdings nicht von Büchern oder Zeitschriften, sondern von Bier. Sein Vater, zunächst Braumeister bei den Fürstenbergs, gründete nach dem Ersten Weltkrieg einen florierenden Bierverlag, worunter ein Unternehmen für den Zwischenhandel mit Gebrautem zu verstehen ist. 1925 starb der Vater und hinterließ seinem Sohn ein Erbe, das zu einem Teil bereits mit dem 20. Geburtstag des Juniors fällig wurde. Schon als 14-jähriger mit einem HUC-Motorrad, aber ohne Führerschein unterwegs, gab es das erste Auto 1930. Pietsch lag nach einem Motorradsturz mit seiner 1.000er-Neander noch auf dem Krankenlager, als ihm die Mutter – jetzt alleinige Chefin des Bierverlags – eröffnete, dass fürderhin Auto gefahren werde. Dies allerdings nicht mit dem ersehnten BMW 315, sondern im 15-PS-Roadster von DKW.

Pietsch nimmt den kleinen Sportflitzer dankbar an, verkauft ihn aber 1932, legt sein Teilerbe dazu und fährt zu Ettore Bugatti, dem Rennwagen-Hersteller von Molsheim. Pietsch kauft (hier alle Privatautos von Paul Pietsch) den weißen T 35B des Privatfahrers Heinz-Joachim von Morgen und lernt sogar den Patron kennen: „Ettore Bugatti wollte selbst sehen, welcher 20-jährige sich denn einen seiner Rennwagen leisten konnte.“

Spritmangel kostet Paul Pietsch den Sieg

Im ersten Jahr zwölf Rennen, dabei zwei Siege und schon im ersten Lauf die Erkenntnis, dass man vor dem Rennen auch genug Kraftstoff tanken sollte – in Führung liegend, fällt er mit Spritmangel aus. Im folgenden Jahr gibt es einen Alfa Romeo Monza und immerhin 16 Starts: bei Eisrennen, drei GPs und vielen Bergläufen. 1934 bekommt der Alfa mehr Hubraum, Pietsch bestreitet 13 Rennen, schnellste Runden und fünf erste sowie drei zweite Plätze beeindrucken sogar die Auto Union. Deren Rennleiter Willy Walb holt ihn 1935 zusammen mit Bernd Rosemeyer als Junior ins Zwickauer GP-Team. Dritter Platz in Monza, zusammen mit Rosemeyer.

Im Jahr danach pausiert Pietsch, ab 1937 startet er wieder als Privatfahrer mit Rennwagen von Maserati und Alfa Romeo. Die Resultate können sich sehen lassen; als Werksfahrer für Maserati bestreitet er erfolgreich viele Rennen der kleinen Voiturette-Klasse bis 1,5 Liter Hubraum. Dann das denkwürdige Rennjahr 1939. Maserati stellt Pietsch zum Großen Preis von Deutschland auf dem Nürburgring einen 8CTF mit Kompressor zur Verfügung. Und mit diesem roten Monoposto fährt Pietsch das Rennen seines Lebens. Er ist nicht langsamer als die Silberpfeile der Auto Union oder von Mercedes-Benz, und in der dritten Runde übernimmt Pietsch sogar die Führung. Grand-Prix-Asse wie Rudolf Caracciola und Tazio Nuvolari liegen hinter seinem Maserati auf den Plätzen.

Dann lässt ihn die Technik im Stich. Zwei ungeplante Kerzenwechsel kosten Zeit, im Ziel ist Pietsch gefeierter Dritter. Nach dem Zweiten Weltkrieg greift er noch einmal erfolgreich in den Motorsport ein: 1950 wird er auf seinem Veritas RS Deutscher Sportwagen-Meister, 1951 Deutscher Formel 2-Champion. Die eigentlich geplante Saison 1953 sagt Pietsch nach dem ersten Renntermin ab: Maserati bringt den 4CLT zu spät in die Eifel. Pietsch verzichtet auf einen Start im ungetesteten Auto und hängt in der Folge den Rennhelm ganz an den Nagel.

1946 kommt die Zeitschrift „Das Auto“ heraus

Seine 1946 begonnene Karriere als Verleger fordert ihn voll. Zusammen mit seinen beiden Rennfreunden Ernst Troeltsch und Josef Hummel beschließt Pietsch ein Jahr nach Kriegsende, eine Automobilzeitschrift zu gründen. Die französischen Besatzungsoffiziere wollen zunächst keine Lizenz erteilen: „Es wird in Deutschland nie wieder so viele Autos geben, dass ein Automagazin nötig wäre.“ Pietsch und seine Freunde bleiben hartnäckig, und bereits im Herbst 1946 erscheint die erste Ausgabe von „Das Auto“. Der Titel findet reißenden Absatz, das Auflagen-Limit (rund 30.000 Exemplare) definiert nur die zugeteilte Papiermenge. Fünf Jahre später spannen sich Pietsch und Troeltsch mit dem Vogel-Verlag zusammen, der seinen alten Titel „Motor und Sport“ mit in die Ehe einbringt. Aus „Das Auto, Motor und Sport“ wird 1963 auto motor und sport.

Die Liebe zum Motorsport brennt im erfolgreichen Verleger weiter, nur auf anderer Ebene. 1970 sponsert er mit auto motor und sport in der Formel 1 Rolf Stommelen mit dem Brabham BT 33, ein Jahr später kommt John Surtees dazu. Die Idee, Motorsport-Talenten den erfolgreichen Einstieg in eine Rennkarriere zu erleichtern, führt in der Folge zur Gründung der Nachwuchskader von auto motor und sport und sport auto. Mit dabei sind etwa Bernd Schneider, Ellen Lohr, Karl Wendlinger und Markus Winkelhock. Die Motor Presse Stuttgart wächst zu einem internationalen Unternehmen mit derzeit 140 Titeln in 20 Ländern heran. Ihre Mitarbeiter sind stolz darauf, das von Paul Pietsch vor 65 Jahren begonnene Werk weiterzuführen und gratulieren ihrem „Patron“ von ganzem Herzen. Wenn je ein Buchtitel mitten ins Schwarze getroffen hat, dann der seiner jetzt wieder neu aufgelegten Biografie: „Doppelsieg“.