Mercedes-Benz 300 SL im Fahrbericht

Das Alleskönner-Cabrio

Der meistgebaute SL aller Zeiten gilt als wahrer Alleskönner, ideal für den Einstieg in die Klassiker-Welt. Er ist offen, solide, kultiviert und steigt ständig im Wert. Doch nicht nur Vernunftgründe sprechen für den Kauf.

Mercedes-Benz 300 SL, Kühlergrill Foto: Hans-Dieter Seufert 9 Bilder

Kerstin ist 28 Jahre alt und fährt einen Ford Ka. Doch die Marke Mercedes spielt in ihrem Leben eine große Rolle. Ihre Eltern haben seit sie denken kann einen Daimler in der Garage stehen, und ihr Freund fährt ein modernes T-Modell der Baureihe 211. Sie mag die Autos mit dem Stern, ist begeistert, aber auch ein bisschen aufgeregt, dass sie als Fotomodell einen ganzen Tag lang den Mercedes-Cabrio fahren darf.

Wenig Extras, aber Topzustand

Es ist der signalrote Mercedes 300 SL von Jürgen Collet, Mitglied des R/C 107 SL-Clubs aus Kirchheim. Das Motto für den Wagen lautet: wenig Extras, dafür aber Topzustand. Immerhin hat der Vorbesitzer damals die ziemlich notwendige Viergang-Automatik geordert. Zu Mercedes-Klassikern fehlt Kerstin noch der tiefe Bezug, an den W123 ihres Vaters kann sie sich dunkel erinnern, er taucht auf den Fotos ihrer Kindheit ab und zu im Hintergrund auf. Ein SL ist für die junge Frau etwas ganz Besonderes, sie bewundert vor allem die Pagode wegen ihrer schönen Form, auch den 107er erkennt sie sofort, als sie auf den Wagen zugeht.

Jürgen Collet öffnet mit einladender Geste das Stoffdach und versenkt es im Verdeckkasten. Kerstin wuchtet vorsichtig die breite, schwere Tür auf, steigt ein, setzt sich erwartungsvoll, aber mit ein bisschen Lampenfieber auf den kunstledernen Fahrersitz. Kerstin ist beeindruckt, dass ein 27 Jahre altes Auto wie neu aussehen kann. Sie registriert den niedrigen Tachostand von 135.000 km. Nach erstem Vertrautwerden mit dem Mercedes 300 SL, mit der Automatik und der ungewohnten Fußfeststellbremse fährt Kerstin allein und folgt den Anweisungen des Fotografen.

Vor dem Wechseln der Foto-Location gibt es stets eine längere Pause. Schnell veliert sie die Scheu vor dem ausladenden Mercedes 300 SL mit seiner imposanten Motorhaube und fast 1,80 m Breite. Schon nach einer halben Stunde im fremden Cabrio meint Kerstin, dass sich der schwere Wagen unerwartet leicht fährt. Automatik, Servolenkung und der Mercedes-typische kleine Wendekreis zerstreuen ihren anfänglichen Respekt vor dem zwar kurzen, aber ausladenden Roadster mit der wuchtigen Instrumententafel.

Mercedes 300 SL mit solider Konstruktion und Qualität

Wuchtigkeit ist beim Mercedes 300 SL R107 nicht nur Selbstzweck oder Ausdruck solventer Opulenz, sondern vor allem Konstruktionsziel. Entwickelt wurde der Pagoden-Nachfolger Ende der Sechzigerjahre, als die sicherheitsfanatische US-DOT-Behörde Cabriolets ohne Bügel generell verbieten wollte. Der Frontscheibenrahmen geriet beim 107er deshalb so überaus massiv, weil er im Falle eines Überschlags unbedingt standhalten muss, um die Passagiere zu schützen.

Sicherheit bedeutete damals auch große Scheinwerfer, üppig dimensionierte Blinker und Rückleuchten im Omnibusformat, deren gezahntes schmutzabweisendes Profil zugleich als langlebiges Designmerkmal diente. Daimler-Benz-Chefstilist Friedrich Geiger zeichnete den 107er und seine nicht minder eigenwillige und formschöne Coupévariante SLC. Geiger schuf mit den gleichen, heute als barock empfundenen Stilelementen auch die S-Klasse W116. Der Mercedes 300 SL R107 diente als wirksames Geschmacksmuster für das neue Mercedes-Design der Siebzigerjahre, es wurde bis zum Debüt des 123er-T-Modells auf der IAA 1977 konsequent durchgehalten.

Kerstin findet den Mercedes 300 SL schön, nicht nur, weil er rot ist. Ihr gefällt das „strahlend lächelnde Gesicht des Wagens mit dem großen Stern“, und sie mag die niedrige Seitenlinie, verglichen mit modernen Cabrios. „Da sitzt man nicht so eingemauert und spürt den Fahrtwind deutlich.“ Sie meint aber, wenn der SL ein weniger länger wäre, würde es den Proportionen guttun. Vor allem mit den großen glattflächigen 15-Zoll- Rädern nach dem Facelift im Sommer 1985 wirkt der luxuriöse Roadster recht gedrungen. Die kontemporären Fuchs-Barockfelgen stehen dem 107er einfach besser. Weil geriffelte Leuchten, geriffeltes Blech im Souterrain und geriffelte Felgen einen stilistischen Gleichklang erzeugen. Auch die betonte Spoilerlippe des späten Modells wirkt wie mit Botox aufgespritzt.

M103 ist der angenehmere Antrieb für den Mercedes R107

Dafür überzeugt die modernisierte Technik im Mercedes 300 SL. Der neue, geschmeidige Dreiliter-Sechszylinder aus dem W124 sieht zwar unspektakulär aus und er leistet auch noch fünf PS weniger. Aber der schlanke M103 läuft deutlich leiser als der mit sehr viel mehr beweglichen Massen operierende Schlepphebel-Doppelnockenwellen-Vorgänger im 280 SL. Außerdem bietet das in unscheinbarem Schwarz gehaltene Triebwerk mehr Durchzugskraft im unteren Drehzahlbereich. Damit ist er für die Viergang-Automatik der angenehmere Partner als der hochtourige, viel sportlicher ausgelegte M110 mit seinem imposanten Zylinderkopf-Geweih.

Kerstin findet den schweren Mercedes 300 SL überraschend temperamentvoll, bis etwa 100 km/h wirkt er im sportlichen Automatik-Modus erstaunlich dynamisch. Spät schaltet das Strömungsgetriebe in den nächsten Gang, erst bei 3.800/min, auch wenn Kerstin das Gaspedal nicht ganz durchtritt. Die kleinen Achtzylinder im 107er wirken trotz nur geringfügig höherer Leistung souveräner und weniger angestrengt. Man kann es am Drehzahlmesser ablesen, nicht am Geräusch.

Der M103 bleibt unter 4.000/min angenehm leise. So ein verwindungssteifer, ursolider Mercedes 300 SL wiegt immerhin anderthalb Tonnen, da vollbringen 180 PS und 255 Nm keine Wunder. Mehr noch als die angenehmen Fahreigenschaften schätzt Kerstin bei Februartemperaturen um acht Grad die wirksame Heizung, die den weitläufigen Fußraum wohlig warm temperiert.

Das Fahren im Mercedes 300 SL R107 ist von großer Mühelosigkeit geprägt. Er kann alles, gut federn, gut liegen und gut beschützen. Er hat sogar Kofferraum und eine große Shopping-Ablage hinter den Vordersitzlehnen. Zugegeben, er ist nicht so rassig wie ein TR6, aber dafür auch nicht so ruppig. Kerstin will gar nicht mehr aussteigen, fährt offen mit Tempo 80 in den Sonnenuntergang. In 20 Kilometern, am Bahnhof Kirchheim ist Fahrerwechsel.

Fazit von Alf Cremers zum Mercedes R107

Der späte 107 ist als Mercedes 300 SL maximal unproblematisch und ein Vernunftkauf für Freunde kultivierten Offenfahrens. Ich liebe es aber unvernünftig, deshalb hätte ich gerne einen Achtzylinder, am liebsten einen 350 SL in Metallic mit Ledersitzen.