Bentley MK VI Cresta im Fahrbericht

Der bekrönte Gleiter

Nach dem Krieg schuf Pinin Farina eine moderne Coupé-Karosserie für den Bentley Mk VI. Das Modell erhielt den Namen Cresta und wurde Vorbild für den 190-km/h-Renner Continental R.

Bentley MK VI Cresta, Frontansicht Foto: Arturo Rivas 22 Bilder

Obwohl für Immanuel Kant das Erhabene nur als Naturphänomen auftritt, erzeugt dieser dunkelgrüne Bentley ähnliche Empfindungen: "Das Erhabene (sublime) ist die ehrfurchterregende Großheit dem Umfange oder dem Grade nach, zu dem die Annäherung einladend, die Furcht aber, in der Vergleichung mit demselben in seiner eigenen Schätzung zu verschwinden, zugleich abschreckend ist." Anders ausgedrückt: Das Verlangen, diesen herrlichen Wagen zu fahren, ist zwar riesengroß, dennoch traut man sich kaum, den Türgriff anzufassen.

Das hängt schon damit zusammen, dass der große Zweitürer so trutzig und abweisend wie eine südenglische Küstenfestung von Heinrich VIII. wirkt. Außerdem soll die von Pinin Farina entworfene Karosserie für die Design-Entwicklung der Nachkriegs-Automobile einen großen Einfluss gehabt haben. Und zu guter Letzt gab es davon nur elf Stück - exklusiver geht es eigentlich nicht.

Bentley Cresta, ein britisches, italienisches und französisches Teamwork

Gleich drei Nationen waren an dem Bau des seltenen Bentley Cresta beteiligt: England lieferte durch Bentley das fahrbereite Chassis mit 4,3-Liter-Sechszylinder und Italien mit Pinin Farina die schnörkellose Ponton-Karosserie. Der französische Unternehmer Jean Daninos bezahlte und vermarktete schließlich das Projekt. Ihm gehörte die Stahlbau-Firma Facel Metallon, die ab 1954 mit dem Facel Vega unter ihrem eigenen Namen ein mit Chrysler-Technik ausgestattetes Luxus-Coupé baute.

Das erste von Pinin Farina mit Cresta bezeichnete Coupé auf Basis des Bentley Mk VI stand 1948 auf dem Pariser Salon und anschließend 1949 in Genf. Auf beiden Automessen fanden sich Kaufinteressenten, weshalb sich Daninos dazu entschloss, den Cresta im eigenen Werk zu produzieren. Bentley lieferte aus Crewe ein speziell dafür präpariertes, fahrbereites Chassis mit verkürzter Lenksäule und länger übersetzter Hinterachse, um den Ansprüchen an ein niedrig bauendes, schnelles Reisecoupé gerecht zu werden.

Allerdings verlangte Bentley für die kleine Serienproduktion eine Korrektur der Cresta-Front, der ein klassischer Hochkant-Kühlergrill im Bentley-Stil eingepasst wurde, um das typische Markengesicht zu wahren. Pinin Farina hatte ursprünglich einen deutlich moderneren Breitkühler vorgesehen. Unser Foto-Fahrzeug entspricht dieser Ur-Version, von dem in Italien nur zwei Modelle entstanden sind.

Revolutionäre Formsprache

Das Design des Cresta - insbesondere mit dem Breitkühler - war für das Jahr 1948 extrem modern, ja sogar revolutionär. Die meisten Hersteller setzten noch auf das typische Erscheinungsbild aus der Vorkriegs-Ära mit frei stehenden oder stark akzentuierten Kotflügeln, mit schmalen Hochkant-Kühlern, mit sich nach vorn verengenden Innenräumen und zum Teil sogar noch eng zusammenstehenden Scheinwerfern. Als typisches Beispiel sei hier der Jaguar XK 120 von 1948 genannt. Der Cresta folgt dagegen konsequent der neuen Ponton-Form, die Pinin Farina erstmals in dem kleinen Cisitalia-Coupé 202 Berlinetta von 1947 realisierte. Besonders von vorn betrachtet wirkt der schlichte Bentley wie ein Auto aus den frühen Sechzigern, zum Beispiel der Rover 3 Litre.

Der Cresta beeinflusste auch deutlich die Coupé-Formen des Lancia Aurelia GT B20 und des im Vergleich noch konservativ gestylten Bentley Continental R-Type mit Karosserie von Mulliner aus dem Jahr 1952 und später. Kurz gesagt übersprang Bentley mit dem Cresta nicht nur den von Tradition und Konservatismus geprägten eigenen Schatten, sondern auch fast zwei Entwicklungs-Jahrzehnte im Automobil-Design. Und dieses außergewöhnliche, extrem seltene und aus damaliger Sicht ultramodern gestaltete Automobil steht jetzt bei Lutziger Classic Cars in Rudolfstetten bei Zürich (www.lutziger-classiccars.ch) für eine Probefahrt bereit.

Mit demutsvoller Verbeugung

Typisch italienisch treten die schlichten Türgriffe auf, die sich erst auf Fingerdruck einige Zentimeter von der Karosserie abheben, um anschließend als Türöffner zu dienen. Der Einstieg ist auf kuriose Weise gewöhnungsbedürftig: Zum einen muss man eine gewisse Höhe des Wagenbodens einkalkulieren - fast wie bei einem modernen Range Rover - andererseits erfordert der niedrige Dachaufbau zugleich eine demutsvolle Verbeugung. Die Köpfe der Insassen müssen nämlich beim Einsteigen unter dem klein gehaltenen Türausschnitt hindurchtauchen, genießen aber anschließend eine großzügige Kopffreiheit. Man sitzt vorn auf erstaunlich flachen, aber bequemen Sitzen mit weit ausgestreckten Beinen wie in einem flotten italienischen Sport-Flitzer, aber insgesamt dennoch so hoch und übersichtlich wie auf einem Elefanten während der Tigerjagd.

Erhabenheit bekommt hier einen ganz anderen, bildhaft zu nehmenden Wortsinn. Denn nicht nur das eigene Automobil in Form einer unendlich lang erscheinenden Motorhaube, sondern die ganze Welt liegt dem Bentley-Fahrer zu Füßen.

Kultiviertes Gleiten mit sechs Zylindern im Bentley Cresta

Der Motor startet auf Knopfdruck und lässt sich nur durch ein dezentes Zischeln vernehmen. Bei 4.000/min leistet der 4,3 Liter große Sechszylinder bescheidene 137 PS, lässt aber dennoch erahnen, dass auch bereits mit niedrigen Drehzahlen knapp oberhalb des Leerlaufs die Alpen erobert werden können. Tatsächlich kann man mit der leichtgängigen Lenkradschaltung schon ab Schritttempo den zweiten Gang einlegen, in dem der Bentley auch Bergauf-Kehren mühelos absolviert. Die Lenkung arbeitet relativ präzise und mit stoischem Gleichmut. Sie macht mit typisch britischer Diskretion keine Aussagen über das vom Fahrer vorgegebene Kurventempo und überlässt dies lieber den quietschenden Reifen.

Auf längeren Geraden gefällt der Bentley durch sein ruhiges, sänftenartiges Dahingleiten mit erstaunlich geringen Windgeräuschen. Jetzt können wir uns hinter dem nach rechts versetzten Lenkrad (Vorgabe durch das altertümliche Bentley Mk VI-Chassis) etwas genauer umsehen und entdecken zum Beispiel einen runden Tachometer mit von oben nach unten verlaufender Kilometer-Skalierung. Das schlicht und modern gestaltete Interieur verzichtet fast ganz auf Chrom- und Holzzierrat. Es setzt den Akzent eindeutig auf moderne Fahrmaschine mit rein funktionalem Luxus wie elektrische Fensterheber.

Dagobert Duck als Selbstfahrer hätte an diesem monumental auftretenden Straßenkreuzer seine Freude gehabt. Auch Immanuel Kant könnte sich begeistern, denn erhaben ist „das, mit welchem in Vergleichung alles andere klein ist“. Und das waren nach dem Krieg die normalen Personenwagen in Europa allemal.

Auslieferung in die USA

Unser dunkelgrünes Cresta-Coupé wurde damals nach Washington geliefert, wechselte dann zu einem Besitzer in Palm Beach/Florida. Im Jahr 1990 kam es nach Europa zurück, war jedoch in einem sehr schlechten Zustand, der eine Grundrestaurierung erforderte, die in England durch Wildae Restaurations LTD ausgeführt wurde. Vor allem die Aufarbeitung der über ein Stahlskelett gespannten Alu-Karosserie erforderte einen extrem hohen Arbeitsaufwand, bis die großflächige Karosserie wieder im neuwertigen, dellenfreien Originalzustand erstrahlte.
 
Bei der 4. Bensberg Classics, die vom 7. bis 9. September 2012 in Bergisch Gladbach stattfanden, wurde der Bentley MK VI Cresta Sieger in der Kategorie "Raritäten in Kleinserie".