Tatra 613/1 im Fahrbericht

Schwarzer Riese aus dem Osten

Mit dem Tatra 613 präsentierte der tschechische Hersteller auf dem Höhepunkt des kalten Krieges eine Limousine, die von Vignale in Turin gestaltet worden war. Gegen Ende des Prager Frühlings brach der eckige Viertürer mit der Stromlinientradition des tschechischen Hauses.


Tatra-T613-Prototype 1970 Foto: Archiv 19 Bilder

Die Tschechen hatten schon immer einen ausgeprägten eigenen Willen. 1962 sprengten sie mit 800 Kilogramm Dynamit das 14.000 Tonnen schwere Prager Stalin-Denkmal in die Luft. Und keine drei Jahre später wurde der Große Bruder bei den Mai-Feiern von Demonstranten angeprangert: "Lang lebe die Sowjetunion, aber auf ihre eigenen Kosten". Als Alexander Dubcek 1968 Staatschef wurde, machte er mit den Reformen ernst. Er beschloss die Einführung der Marktwirtschaft und hob die Reisebeschränkungen auf. Der Prager Frühling blühte auf.

Vorbei mit der Tatra-Stromlinie - Zeit für Vignale

Genau in diese Zeit fiel die Entwicklung des Tatra 613. Der seit 1956 gebaute stromlinienförmige Vorgänger 603 galt als veraltet. Vor allem um die Sicherheit war es schlecht bestellt. Der schwere Heckmotor ließ die Limousine bei Nässe allzu leicht ausbrechen, und passive Sicherheit hatte bei der Konzeption noch gar nicht im Lastenheft gestanden.

Um den Stand der Technik auszuloten, besorgte sich Tatra-Chefentwickler Milan Galia einen Porsche 911, einen Mercedes-Benz 300 SEL und einen Glas V8. Die Versuchsingenieure ließen die Westautos im tschechischen Koprivicnice mit einheimischen Nummern zu und testeten sie im Alltag. "Ich holte meine beiden Söhne damit von der Schule ab", erzählt Werksrennfahrer Stanislav Hadusek, der in den sechziger Jahren einige Rennen auf Tatra 603-Modellen bestritten hatte.

Nachdem einige selbst entwickelte Versuchsträger nicht den gewünschten Erfolg brachten, wandte sich die Tatra-Geschäftsleitung an den Karosseriebauer Alfredo Vignale in
Turin, was angesichts der politischen Öffnung des Landes keine Probleme brachte. Italien lag als Handelspartner nahe. Dort saßen renommierte Karossiers, und dank der starken Kommunistischen Partei bestanden gute politische Kontakte. Einige Beschwerden von moskautreuen Sozialisten bis hin zum Büro des Staatspräsidenten wurden schlichtweg ingoriert.

Tatra-Chefentwickler Milan Galia hatte prima verhandelt: "Die Kosten für den Entwurf bei Vignale waren nur unwesentlich höher als im eigenen Haus", schrieb er in einem
Aufsatz für das Prager Nationalmuseum.

Die Panzer rollen in die Tschechoslowakei, die ersten Tatra 613 mit Sicherheitsszelle entstehen

Die tschechisch-italienischen Verträge waren gerade unterzeichnet, als am 20. August 1968 die Truppen des Warschauer Pakts mit 750.000 Mann und 6.000 Panzern in die Tschechoslowakei einmarschierten. Die Kooperation mit Vignale hing in dieser Zeit an einem seidenen Faden. Doch im Dezember 1968 wurden drei Chassis von Tatra nach Turin geliefert. Die Italiener arbeiteten schnell: Schon im April 1969 war der erste Tatra 613 fertig, eine dunkelblaue Luxusversion. Im Juni folgten eine Standardlimousine und ein in Hellgrünmetallic lackiertes Coupé.

Für die Entwicklung des Tatra 613-Motors hatten die Tatra-Ingenieure ebenfalls eine Zusammenarbeit mit dem italienischen Tuner Conrero angedacht, konstruierten das V8-Triebwerk aber schließlich selbst. Im Sommer 1969 war die neue Maschine für den Tatra 613 fertig. Die ersten Prototypen wurden der Fachpresse im August präsentiert. Die Staatsexportfirma Motokov hatte ein strenges Fotografierverbot erlassen. Alle Reporter mussten ihre Kameras am Werkstor abgeben. Den Journalisten wurden die wesentlichen Fortschritte ins Notizbuch diktiert.

Der neue Tatra 613 war der erste Tatra mit Sicherheitszelle und definierten Knautschzonen, im Innenraum waren alle Prallflächen entschärft und gepolstert worden. Die Sicherheitslenksäule sollte bei einem Aufprall nicht mehr in den Innenraum eindringen.

Bei Tatra wurde nie am Fließband gefertigt

Das kritische Fahrverhalten des Vorgängers sei bei dem Tatra 613 verbessert worden, erklärte man den aus zehn Ostblockländern angereisten Schreibern, indem das Triebwerk weit nach vorn gerückt wurde und nun fast eine Mittelmotor-Position einnahm. Mit nur noch 59 Prozent Gewicht auf der Hinterachse konnte die Hecklastigkeit stark reduziert werden. Noch im selben Monat stellte Tatra die 613-Modelle auf der Messe in Brno erstmals dem Publikum vor.

Im August 1970 wickelte sich der elegante Tatra Coupé-Prototyp bei einem Crash um einen Baum. Das Wrack blieb lange in einer Ecke im Werk liegen und wurde erst später an einen Mitarbeiter abgegeben, der es in mühevoller Kleinarbeit in Bratislava wieder aufbaute und rot lackierte. Das weitere Schicksal der Limousine blieb lange unklar, weil die Regierung die Investitionen für das neue Modell nicht genehmigte. Erst 1973 kam grünes Licht, und zwei Exemplare wurden hergestellt. Im folgenden Jahr ging ebenfalls wenig, weil die komplette Montage von Koprivicnice ins benachbarte Pribor verlagert wurde. Der Rohbau blieb im Stammwerk, weil nur dort Platz für die großen Pressen vorhanden war. Die Herstellung erfolgte in reiner Handarbeit, Fließbändern verweigerte sich Tatra bis zum Auslaufen der Pkw-Produktion im Frühjahr 1998.

Das neue Modell Tatra 613 wurde auf Ausstellungen in Belgrad, Turin, Amsterdam, Brüssel und London gezeigt. Kaufen konnte man den Tatra 613 allerdings in diesen Ländern nicht, es ging um die Demonstration tschechischer Ingenieurskunst. Hier zu Lande war der Tatra 613 hingegen zu haben: - allerdings nur im Osten. In den Jahren 1978 und 1979 wurden 850 Tatra 613 in die DDR geliefert. In dem Land, in dem alle gleich waren, kamen allerdings nur wenige in diesen Genuss. Neben staatlichen Stellen, Volkseigenen Betrieben und Kombinaten gingen einige Tatra 613 an systemtreue Gleichere wie Hochschulprofessoren, Mediziner, Künstler, Leute mit Beziehungen und "verdiente" Personen. Der offizielle "Verrechnungspreis" betrug stolze 78.000 Ostmark.

Nach tödlichem Tatra-Unfall wollen die Partei-Bonzen Westautos

Einer dieser Tatra 613 wurde 1978 für den Fuhrpark von Harry Tisch, den Chef des Freien Deutschen Gewerkschaftsbunds angeschafft. Doch in FDGB-Diensten tat das schwarz lackierte Exemplar nicht lange Dienst. Nach einem schweren Unfall, bei dem ein DDR-Minister in einem Tatra ums Leben kam, wurden alle Modelle der Marke von Staats wegen ausgemustert und verkauft. Böse Zungen behaupten, die Staatsratsmitglieder hätten das Unglück zum Anlass genommen, um endlich auf begehrte Westautos wie Volvo 264 oder Citroën CX umsteigen zu können.

Der Tatra 613 aus dem Gewerkschafts-Fuhrpark kam zunächst nach Jena, bis ihn ein Reifenhändler aus Bernburg erwarb und zehn Jahre als Alltagsauto fuhr. Nach einer 400 Mark billigen Neulackierung nach DDR-Standard und einer technischen Revision nutzte er den 130.000 Kilometer gelaufenen Tatra 613 nur noch als Liebhaberstück, kam aber selten zum Fahren. Das war die Chance von Uwe Müller.

Der 23-jähige Erzieher überredete den Mann zum Verkauf: "Ich hatte Mitleid mit dem Tatra 613, weil er fast nie bewegt wurde." Für den Bernburger wird seitdem jeder Tankstellenbesuch zum Erlebnis. Nicht wegen des Verbrauchs, der sich mit rund zwölf Litern bei gemäßigter Fahrweise in Grenzen hält. "Oft fragen mich die Leute, ob sie sich mal in den Tatra 613 reinsetzen können", sagt Müller. Und: "Meist zeigt sich auf den Gesichtern dann ein breites Grinsen."

Schon die Proportionen lassen den Tatra 613 aus dem automobilen Einerlei herausragen. "Schrankwand" nennen ihn die ostdeutschen Tatra-Fans wegen seiner kantigen Formen. Mit 1,45 Meter Höhe überragt er andere Autos deutlich.

Tatra-Sound, irgendwo zwischen Porsche 911 und US-V8

Auch seine technische Konzeption macht den Tatra 613 unverwechselbar. Der Reiz seiner Form liegt in der flachen Bughaube, der niedrigen Gürtellinie und den großen Glasflächen, die fast Van-Dimensionen erreichen. Hinten zeugen die zwischen den Dachpfosten eingezogene Heckscheibe und das konkave Anschlussblech von Charakter. Schön ist der Tatra 613 nicht, aber er hat den Reiz des Besonderen. Entworfen hat ihn übrigens weder Alfredo Vignale noch sein Haus-und-Hof-Stylist Giovanni Michelotti, sondern ein Vignale-Werker namens Varesio, Vorname unbekannt. Gelernter Designer soll er jedenfalls nicht gewesen sein.

Skurrile Züge trägt auch der Innenraum des Tatra 613. Auf quietschgelben Polstern mit gewagtem floralem Stoffmuster sitzt der Fahrer vor einem üppig bestückten Instrumentenbrett, dessen Material ebenso wie das des Lenkrads an Lakritze erinnert. Man sitzt bequem, hat Platz in Fülle und genießt dank der großen Scheiben eine äußerst großzügige Rundumsicht.

Im Fond des Tatra 613 können problemlos drei Erwachsene Platz nehmen, Knieraum und Kopffreiheit sind verschwenderisch dimensioniert. Und der Fahrer erlebt eine Überraschung, wenn er den Anlasser des Tatra 613 betätigt, was wahlweise mit dem Zündschlüssel oder dem Startknopf unter der hinteren Haube erfolgen kann. Denn der V8 im Tatra 613-Heck erwacht mit typischem Fauchen eines luftgekühlten Triebwerks zum Leben. Er liegt im Sound irgendwo zwischen Porsche 911 und Ami-V8. 165 PS aus 3,5 Liter Hubraum und vier oben liegende Nockenwellen weisen den Tatra 613 auf dem Papier als durchaus ernst zu nehmenden Verkehrsteilnehmer aus.

Dieses Versprechen löst der Tatra 613 auch auf der Straße ein. Da das maximale Drehmoment von 270 Nm schon bei 3.300/min anliegt, lässt es sich mit dem großen Schwarzen vorzüglich cruisen. Dabei ist die Maschine angenehm drehfreudig und belästigt die Insassen auch bei der sehr konservativ angesetzten Höchstdrehzahl von 5.600/min nicht durch unbilligen Lärm oder Vibrationen. Das gut gedämmte Rauschen aus dem Heck des Tatra 613 hat im Gegenteil beruhigende Wirkung.

Das Vierganggetriebe des Tatra 613 mit dem ebenso weichgummiartigen Schalthebel operiert etwas hakelig und mit langen Wegen, wird aber angesichts der Motorcharakteristik selten benötigt. Die servofreie Zahnstangenlenkung ist nur im Stand schwergängig. Einmal in Fahrt, lässt sich der große Tatra 613 zielsicher dirigieren. Das Fahrwerk ist dabei von der sportlichen Sorte: Der Tatra 613 ist für eine Limousine straff gefedert und umrundet Biegungen dank der ausgeglichenen Gewichtsverteilung neutral bis leicht übersteuernd. Seine vier Scheibenbremsen bringen ihn sicher zum Stehen. Fahrspaß ist also in dem Tatra 613 gewährleistet, die eine Eigenart von ihren tschechischen Schöpfern übernommen hat: Sie ist ausgeprägt eigenwillig.