Ghia 230 S Prototipo Fahrbericht

Prototyp mit Birdcage-Genen

Als Basis für den Ghia 230 S wählte Ghia den Fiat 2300 S. Der Prototyp Ghia 230 S wurde 1963 auf dem Turiner Salon vorgestellt. Die eleganten Linien zeichnete der Karmann-Ghia-Designer Sergio Sartorelli, unter dem Blech steckt ein Gitterrohrrahmen von Gilberto Colombo.

Ghia 230 S Prototipo Foto: Arturo Rivas 14 Bilder

Von dem Ghia 230 S gibt es nur dieses eine Exemplar. Sachte schiebe ich den Schalthebel durch die Kulisse nach links oben in den ersten Gang. Was passiert bei einem Kratzer in Lack? Einer Delle oder - nicht auszudenken - einem Totalschaden? Der Sechszylinder röhrt auf, die Kupplung greift, das Auto nimmt Fahrt auf.

Ghia 230 S mit einmaliger Formensprache

Zweiter Gang. Lenkung und Pedale benötigen Bärenkräfte. Dritte, gleich darauf die vierte Gangstufe. Die Straße wie mit einem Lineal gezogen, kilometerweit flankiert von dicht stehenden Birken, die bei Tempo 80 wie ein halluzinogener Wischeffekt vorbeirauschen. Durchatmen. Meine Hände umgreifen fest das Steuer des Ghia 230 S. Jetzt bloß nicht die Nerven verlieren und einfach so tun, als ob es das normalste der Welt sei, einen Prototypen zu bewegen.

Neben mir sitzt Heiko Seekamp, Fotograf aus Bremen. Und Sammler automobiler Raritäten. Ihm gehört dieser grüne Ghia 230 S, dessen geschwungene Linie ihn grenzenlos begeistert. "Dieses Auto verfügt über eine einmalige Formsprache", schwärmt Seekamp, "und zwar aus allen Blickwinkeln." Es sei jedes Mal ein großer Genuss, damit zu fahren.

Der Mann zeigt Nerven, denn dieses tadellos gepflegte Einzelstück ist - wie alle Fahrzeuge aus der Seekampschen Sammlung - selbstredend zugelassen. Damit er jederzeit eine Runde drehen kann, falls ihm danach ist. Und dann gibt der Bremer Fotograf mit dem markanten Schnauzer den Ghia 230 S an so einem Tag auch noch in fremde Hände.

Andere Besitzer würden dieses Fahrzeug viel eher unter einer Glasvitrine parken - aus der Sicht vieler vermutlich das Mindeste, das sich für so ein rares Automobil tun lässt und das kürzlich auch noch zum Concours der Schloss Bensberg Classics geladen wurde. Dort sorgte dieser Ghia 230 S für Aufsehen - so, wie er es schon einmal getan hat - bei seiner Präsentation 1963 auf dem Turiner Salon.

Fiat 2300 S als ideale Basis für Designer

Dort stehen die Besucher Schlange vor dem lichtdurchfluteten Prototyp eines zweisitzigen Coupés mit abfallendem Heck auf Basis des Fiat 2300 S - Designer schätzen diese Plattform für ihre Entwicklungen. Neben Ghia werden später auch Pininfarina, Savio, Moretti und Michelotti einige ihrer neuen Konzepte auf diesem Chassis präsentieren.

Unter den Turiner Gästen aus aller Welt befindet auch der damalige auto, motor & sport-Chefredakteur Hans-Ulrich Wiechmann, der in Ausgabe 24/1963 schreiben wird: "Nach einhelliger Meinung aller Befragten gebührt diesem Ghia 230 S, der viel niedriger und mit 21 Zentimeter kürzerem Radstand auch beträchtlich kleiner als das Fiat 2300 Coupé ist, der Preis für den schönsten Wagen des Salons." Ähnliches ist in der Dezember-Ausgabe von L'Automobile zu lesen. Der französische Redakteur ergänzt ferner: "Der Ghia 230 S vereinigt eine große Stromlinienfeinheit mit besonders eleganten Formen."

Viel Lorbeer für den Ghia 230 S angesichts der ausgestellten Konkurrenz. Bertone zeigt den von Iso Rivolta entwickelten Iso A3/L Grifo, ebenfalls ein attraktiv gestaltetes Sportcoupé, jedoch mit US-V8-Technik unter der langen Haube. Ferruccio Lamborghini stellt mit dem 350 GTV seinen ersten Sportwagenentwurf überhaupt vor. Die noch mit Klappscheinwerfern versehene Studie gilt als Vorläufer des 350 GT, der ein Jahr später schließlich das erste produzierte Auto des sportwagenbesessenen Traktorenfabrikanten werden sollte. Und schließlich der Stand von Pininfarina. Das Concept Car Corvette Rondine hatte zuvor bereits die Gäste des Pariser Autosalons begeistert, und nun sind die Turiner ebenfalls von dieser Studie angetan, die in Sichtweite des Ghia-Pavillons steht.

Gitterrohrrahmen von Colombo als Birdcage-Gene

Zurück zum Ghia 230 S. Seit Anfang der Sechziger entwirft und baut die Turiner Karosserieschmiede Ghia nach diversen, überaus exzentrischen Studien für die US-Automobilhersteller Lincoln und Chrysler nun wieder verstärkt Autos für den Fiat-Konzern. Auf Basis des Fiat 2100 entstehen ab 1961 das viersitzige 2300 Coupé sowie eine sportlichere S-Version.

Als die Produktion des Coupés jedoch in die Fiat-Werkshallen verlagert wird, verfügt Ghia wieder über Kapazitäten und reagiert mit einer eigenen Konstruktion eines zweisitzigen Sportwagens. Doch diesmal wollen die Verantwortlichen nicht das Chassis des Fiat 2300 S einfach nur neu einkleiden - sie gehen einen Schritt weiter und lassen den Designer Gilberto Colombo einen aufwändigen Gitterrohrrahmen für den Ghia 230 S konstruieren. Der Mann weiß, was er tut - hatte er zuvor doch aus 200 hauchdünnen Stahlrohren das nur 30 Kilo leichte Skelett des Maserati Tipo 60/61 konstruiert, das dem Rennwagen seinen bis heute geltenden Spitznamen gab: Birdcage (Vogelkäfig).

Gleichzeitig macht sich der Leiter der Design- und Prototypen-Abteilung von Ghia, Sergio Sartorelli, daran, dem Ghia 230 S eine Form zu geben. Seinen bekanntesten Entwurf hat er da bereits schon abgeliefert: Aus Sartorellis Feder stammt der Karmann Ghia Typ 34, der seit 1961 bei Karmann in Osnabrück produziert wird. Mit dem Entwurf dieses Bestsellers hat der Designer den Geschmack und die Erwartungen eines ausländischen Auftragsgebers berücksichtigt und voll und ganz getroffen.

Prototypen unterliegen hingegen anderen Zwängen und Visionen. In einem Brief aus dem Jahr 1996, den der Designer an den damaligen Besitzer des Ghia 230 S, einen Fiat-Händler aus Marseille, geschrieben hat und der dem Auto heute noch beiliegt, erklärt Sartorelli: "Andererseits wurden, um den Markt zu erforschen oder um die Vorstellungskraft des Publikums, der Presse und der Automobilfirmen anzustacheln, aus eigener Initiative ungewöhnliche und avantgardistische Formen geschaffen und erprobt."


Motor wandert um 60 Zentimeter nach hinten

Der Ghia 230 S als Demonstration des eigenen Könnens - nicht zuletzt, um die Position innerhalb der italienischen Design-Szene zu festigen, in der ein heftiger Konkurrenzdruck herrschte. Dennoch - oder vielleicht gerade deswegen - schwärmt Sartorelli in seinem Brief: "Das war das goldene Zeitalter der italienischen Karosserie der 60er Jahre, als alles mit der Hand gemacht wurde - vom ersten Modell bis zur letzten Lackschicht - mit einer ausgeprägten persönlichen Linie."

Sartorelli fängt bei seinem Entwurf mit einem nahezu weißen Blatt Papier an, sein Design wird nur von einigen wenigen Notwendigkeiten diktiert - ihm ist zum Beispiel der große Kühler im Weg. Obwohl der Sechszylindermotor bei der neuen Konstruktion um 60 Zentimeter in Richtung Wagenmitte bis hinter die Vorderachse wandert, muss der Designer in diesem Fall auf die Ingenieure hören. Sie gestatten es ihm nicht, die Position des Radiators im Bug des Ghia 230 S zu verändern.

Es entsteht ein erstes Gipsmodell im Maßstab 1:1, an dem noch letzte Änderungen vorgenommen werden können, bevor die Karosseriebauer daran die Stahl- und Aluminiumbleche anpassen. Doch die endgültige Linie und die Proportionen des Ghia 230 S sind längst erkennbar: Das Auto wird von einer langen Haube dominiert, an deren Ende sich vier markant hervorgehobene Scheinwerfer befinden - wie es später auch beim Iso Griffo oder beim Lamborghini Espada sowie dem 400 GT zu sehen sein wird. Sartorelli hat einen Sportwagen in der Optik eines klassischen wie gleichermaßen exklusiven Frontmotor-GT geschaffen.

Verschiedene Fiat spenden Teile

Im erwähnten Brief spricht der Designer an anderer Stelle von großer Leidenschaft während seiner Arbeit, der allerdings beschränkte Mittel gegenüberstehen. Um Entwicklungskosten und die einer Homologation zu sparen, muss Sartorelli ins Fiat-Teileregal greifen. Die Doppelscheinwerfer des Ghia 230 S stammen vom Fiat 1300/1500, die Rücklichter vom 850. Bei den in glattes Blech eingefassten Rundinstrumenten handelt es sich ebenfalls um konzerneigene Großserienprodukte.

Getriebe und Achsen werden beim Ghia 230 S unverändert vom Fiat 2300 S Coupé übernommen, nur der Motor erscheint der Ghia-Mannschaft eine Spur zu schwachbrüstig für das optisch deutlich sportlichere Auto, sie wenden sich an Carlo Abarth. Der zaubert rund 150 PS aus dem 2,3 Liter großen Sechszylinder, gut 20 mehr als zuvor. Seine Maßnahmen beschränken sich dabei auf klassisches Tuning: Der Motor erhält unter anderem zwei Weber-Doppelvergaser sowie eine modifizierte Auspuffanlage. Diese lässt den 230 S freier atmen und - erfreulicher Nebeneffekt - wesentlich kerniger klingen als seine bravere Ausgangsbasis. Das herrliche Standgasröcheln, das sich beim Beschleunigen in ein heiseres Fauchen verwandelt, dürfte am Ende als Gruß in Richtung Ferrari zu verstehen sein.

Ghia 230 S gibt's offiziell nur ein Mal

Fiat wird den Ghia 230 S dennoch nicht bauen. Dem Konzern ist diese Studie mit der faszinierenden GT-Optik und der aufwändigen Rahmenkonstruktion ganz offensichtlich zu gewagt, um sich unter dem eigenen Label einen wirtschaftlichen Erfolg zu versprechen. Es bleibt offiziell bei einem Exemplar, einige Quellen sprechen auch von zwei oder gar drei Fahrzeugen.

Der anfangs in Graumetallic vorgestellte Ghia 230 S-Prototyp wird auf internationalen Messen herumgereicht, um für die Carrozzeria Ghia zu werben. Später wird er für eine Präsentation in den USA rot lackiert, erhält in den Neunzigern schließlich seine jetzige Farbe. Ansonsten bleibt das Auto unverändert. Seit seiner Vorstellung wurde es rund 30.000 Kilometer weit gefahren.

Treibhausklima im Ghia 230 S

Allmählich gewöhne ich mich an den sportlichen Ghia 230 S, es gelingt mir zusehends besser, ihn präzise auf der Straße zu halten - und das im Norden Deutschlands, wo ernsthafte Kurven so selten sind wie ein Schneegestöber auf einer Karibikinsel. Ganz offensichtlich harmoniert die neue Gewichtsverteilung des Front-Mittelmotor-Konzepts nicht mit dem Fahrwerk. Im Fall einer Serienproduktion wäre ein Automobilhersteller wohl kaum um einige größere Modifikationen herumgekommen.

Zudem herrscht im Ghia 230 S ein Klima wie ein einem Treibhaus. Trotz geöffneter Scheiben. Der nach hinten gerückte Motor strahlt seine Hitze direkt in den Fahrgastraum ab, der weder über eine Lüftung noch eine Heizung verfügt. Kinderkrankheiten eines Vorserienexemplars, nichts Ernstes also. Ich halte, übergebe das Auto wieder seinem Besitzer. Ohne Kratzer und Delle. Und tue dabei so, als sei es das normalste auf der Welt gewesen, einen Prototypen wie den Ghia 230 S zu fahren.