Mercedes-Benz 300 SLR Mille Miglia

Von der Rennstrecke ins Museum

Jahre nach seinem Sieg bei der Mille Miglia durfte sich der Mercedes 300 SLR noch einmal zwischen Brescia und Rom austoben, nun soll er für längere Zeit ins neue Museum. Zuvor drehte er für Motor Klassik noch eine letzte Ehrenrunde.

Mercedes-Benz 300 SLR Mille Miglia Foto: Hardy Mutschler 18 Bilder

Als der japanische Motorrad-Gigant Honda Mitte der sechziger Jahre die RC 166 präsentierte, eine 250er-GP-Rennmaschine mit sechs Zylindern und haarsträubendem Sound, meinten manche, die Ingenieure in Hamamatsu hätten sich zunächst ein Geräusch ausgedacht – und dann eine Maschine, die es erzeugen könnte.

Kein anderer Motor klingt so böse wie der des Mercedes-Benz 300 SLR

So oder ähnlich muss es eine Dekade zuvor auch in Stuttgart-Untertürkheim gewesen sein. „Kein anderer Motor klingt so böse wie der des 300 SLR“, meint Stirling Moss, und damit hat der Brite nicht ganz Unrecht: Was der Reihenachtzylinder aus den beiden dicken Auspuffrohren auf der rechten Karosserieseite brüllt, vermag unbedarften Zuhörern schon mal die Eingeweide verknoten. 

Die Ansage der acht Explosionskammern ist eindeutig: Nein, wir sind nicht zum Spielen hergekommen. Das hätte auch niemand erwartet, als die Mercedes-Mechaniker am 30. April 1955 vier silbern in der Sonne glänzende 300 SLR zur Fahrzeugabnahme der Mille Miglia in Brescia schoben. Bereits im Vorjahr hatten die Stuttgarter die Konkurrenz in der Königsklasse mit dem neuen W 196 R in Grund und Boden gefahren – und das, was die Abnahmekommissare nun unter den langen Motorhauben zu sehen bekamen, sah verdächtig nach der erfolgreichen Formel 1-Technik aus.

Der Motor des 300 SLR besteht aus zwei gekoppelten Vierzylindern

Tatsächlich handelt es sich beim 300 SLR um einen zum Sportwagen umgestrickten Formel 1-Monoposto, was auch die interne Typenbezeichnung W 196 S verdeutlicht (R steht für Renn-, S für Sportwagen). Dazu wurde der Gitterrohrrahmen im mittleren Bereich erweitert und der nun vollständig aus Leichtmetall gegossene Motor von 2,5 auf drei Liter vergrößert. Das Prinzip der genialen Kraftquelle aber blieb identisch: ein aus zwei gekoppelten Vierzylinderblöcken bestehender Reihenachtzylinder mit Kraftabnahme in der Motormitte und zwangsgesteuerten Ventilen.

Die Leistung stieg durch die Hubraumerweiterung auf 302 PS bei 7.500 Touren. Als Fahrer wurden Hans Herrmann, Karl Kling, Stirling Moss sowie Juan Manuel Fangio verpflichtet, der 1954 seine zweite WM-Krone auf Mercedes eingefahren hatte und nun auf den dritten Titel zusteuerte. Doch so unerreichbar der Argentinier auch für alle anderen in einem Formel 1 war: Im Sportwagen musste er sich Stirling Moss beugen. Dieser stürmte, geleitet vom britischen Journalisten Denis Jenkinson, mit unnachahmlicher Eleganz durch Italien, übernahm ab Rom die Führung (wo sich die Ferrari-Truppe längst selbst zerlegt hatte) und donnerte eine halbe Stunde vor Fangio durchs Ziel.

Neuer Rekord für den mercedes 300 SLR: Knapp 10 Stunden für 1.606 Km

Die Uhr zeigte 17.29 Uhr, abzüglich der Startzeit von 7.22 Uhr – daher die Startnummer 722 – ergab sich eine Fahrt von zehn Stunden, sieben Minuten und 48 Sekunden für die 1.606 Kilometer, Schnitt 157,6 km/h. Neuer Rekord. Und einer für die Ewigkeit, denn nach einem fürchterlichen Unfall 1957 gab es keine Mille Miglia mehr. Kein Wunder also, dass Moss seinen SLR, der längst den Kosenamen 722 trägt, bei jeder Begegnung mit einem besonders liebevollen Blick bedenkt.

„Er ist einzigartig, ich freue mich immer, damit zu fahren“, sagte er, als er sich bei der diesjärigen Mille Miglia storico hinter das Holzlenkrad klemmte. Nach einer Ehrenrunde durch Brescia übergab der 75-Jährige dann aus gesundheitlichen Gründen an Jochen Mass, der den Silberpfeil noch einmal mit derart weit geöffneten Ansaugschlunden über den Futa-Pass jagte, dass die Blätter von den Bäumen fielen. Es soll für längere Zeit der letzte Auftritt des 722 sein, schließlich gehört er zu den Stars des neuen Museums, und er wird schwer verrückbar in einer Steilkurve montiert.

Zuvor aber nehmen sich einige Sound-Techniker seiner an, um auf der Einfahrbahn in Untertürkheim die Lebensäußerungen des Achtzylinders festzuhalten. Und bei der Gelegenheit darf auch Motor Klassik ein paar Abschiedsrunden drehen. „Kupplung nicht schleifen lassen“, mahnt Mercedes-Mann Gert Straub und gibt mir einen Klapps auf die Schulter: „Viel Spaß.“ Danke, doch dazu muss ich mich zunächst mit der seltsamen Sitzposition anfreunden: Die Beine werden vom hohen Kardantunnel weit gespreitzt, links Kupplung, rechts Bremse und Gas, das Lenkrad erreiche ich nur mit ausgestreckten Armen.

Der Mercedes-Benz 300 SLR ist (nicht nur) akustisches Kulturgut

Die Irritation verblasst in dem Moment, in dem der sagenhafte Motor zündet und sich sämtliche Nackenhaare aufstellen. Dieses Grollen, das sich beim kleinsten Tritt auf das große Gaspedal zu einem unglaublich lauten und unglaublich bösen akustischen Inferno steigert, kennt nur eine Marschrichtung: vorwärts, so schnell wie möglich. Der Vorwärtsdrang bei vollem Verbrennungsdruck ist atemberaubend, vor einem halben Jahrhundert war er mit kaum einem anderen erdgebundenen Gefährt vergleichbar: Wenn ein moderner Mercedes elektronisch abgeregelt wird, kann der SLR noch 50 Geschwindigkeitseinheiten zulegen.

Dennoch keilt das Heck auch beim harten Beschleunigen auf der welligen Piste nicht aus, sanft wandert die Hinterachse Richtung Kurvenausgang. Die Lenkung ist äußerst präzise, überhaupt macht der Zweisitzer trotz seiner Größe einen überaus leichfüßigen Eindruck. Die Trommelbremsen werden geschwindigkeitsabhängig per Servo unterstützt – zum Glück für Stirling Moss, der 1955 weit vor dem Ziel nur noch mit Metall auf Metall bremste. Viel zu früh ist der Fahrspaß beendet. Ein letzter Gasstoß für die Mikrofone, eine letzte Gänsehaut, dann herrscht Ruhe. Zum Glück nicht für immer: Im neuen Museum werden Besucher den Sound des Mille Miglia-Siegers jederzeit abrufen können. Als akustisches Kulturgut gewissermaßen.