Mercedes-Benz SL W113 und R107 Fahrbericht

Pagode oder R107?

Auch die Stückzahl bestimmt den Wert. Der huldvolle Abstand zur Pagode bleibt, weil der offene Mercedes 107er mit 237.287 Exemplaren in 18 Jahren fast ein Massenmodell geworden wäre.

Mercedes-Benz 280 SL, Frontansicht Foto: Arturo Rivas 11 Bilder

Ein paar Design-Zitate hat der Mercedes R107 bei aller stilistischer Unterschiedlichkeit von der Pagode einvernehmlich übernommen. Da wären zuerst die Proportionen; beide SL-Typen sind kurz, breit und niedrig, die formale Betonung liegt dabei auf der langen Motorhaube. Beide verfügen über eine auffallend breite Spur, die Räder füllen die Radkästen perfekt aus. Beide haben einen kurzen Radstand, der beim 107er nur knapp über der Schmerzgrenze liegt.

Mercedes-Roadster auch mit Dach eine Augenweide

Sein Hardtop, pardon, im Mercedes-Jargon natürlich Coupédach genannt, hat die gleiche konkave Wölbung wie das der Pagode. Beide Roadster sehen übrigens mit Coupédach unverschämt gut aus. Die Motorhaube zeigt bei beiden die typische konvexe Ausformung, der spannungsvolle Gegensatz zum negativ gewölbten Dach. Friedrich Geiger, Stylist des Mercedes R107 und begnadeter Zeichner des Flügeltürers, hat beim Pagoden- Nachfolger 350 SL sogar noch ein kleines raffiniertes Zitat mit eingeflochten.

Die Kofferraumklappe ist ebenso wie das Coupédach leicht negativ gewölbt, beim viersitzigen Gran Turismo SLC präsentiert sie sich glatt gezogen. Es lebe der feine Unterschied. Solch zarte Anspielungen, die der Kenner freudig realisiert, machten den vornehmen Mercedes-Stil aus. Sonst geben sich Pagode und Mercedes R107 in Form und Technik sehr verschieden, der automobile Fortschritt taktete in den Sechziger- und Siebzigerjahren deutlich schneller.

Moderne Achse statt Pendelei

Die üppige Karosserie des Mercedes R107 ist sichtbar auf hohe Unfallsicherheit ausgelegt, das Fahrwerk wurde an der Hinterhand gezähmt. Statt der launischen Pendelachse wie in der Pagode kam eine moderne spur- und sturzkonstante Schräglenkerachse zum Einsatz. Der Mercedes R107 ist fast fünfmal so häufig, die Pagode in vergleichbarem Zustand dreimal so teuer. Und es sieht nach den letztjährigen Erhebungen von Classic-Tax nicht so aus, als ob der Abstand schrumpfen würde.

Nur erstklassige Mercedes R107 mit wenig Kilometern in unrestauriertem Originalzustand haben den Hauch einer Chance, preislich in die Nähe einer mittelprächtigen, reparaturgeschweißten Pagode zu kommen. Von einem Generationswechsel kann man beim W113, so heißt die Pagode intern, schon ausgehen, aber im positiven Sinne. Denn sie spricht auch jüngere Generationen an, weil ihre elegante, sinnlich-verspielte Form nachhaltig immer bezaubert. Ihre Faszination beschränkt sich nicht auf Menschen, die sie einst in den Doppelgaragen der weiß geklinkerten Bungalows erlebt haben.

Paul Bracq schuf eine Stilikone

Der damalige Daimler-Benz-Chefstylist Paul Bracq zeichnete atemberaubende Linien von unvergänglichem Reiz. Kleine Schwächen im Detail wie der unnötige Hüftknick hinter der Tür oder die doppelte Schwellerzierleiste verstärken sogar die betörende Wirkung der Pagode. Zusammen mit der 108er S-Klasse und den 111er Coupés und Cabriolets bildet sie das attraktive Dreigestirn klassischer Mercedes-Eleganz, alles Bracq-Entwürfe, bis heute unerreicht.

Die Pagode ist die Schönheitskönigin in diesem Trio Epochal, trotz oder wegen ihrer femininen Ausstrahlung. Eine Ikone der Sechziger, in einem Atemzug zu nennen mit Jaguar E-Type oder dem frühen 911. Wer die Pagode fährt, erlebt sie ziemlich Mercedes untypisch, sportlich und kernig. Der leistungsfähige kurzhubige OHC-Reihensechszylinder wirkt, egal ob 230 SL, 250 SL oder 280 SL, schon im mittleren Drehzahlbereich akustisch ziemlich angestrengt, die kurze Achsübersetzung trägt dazu bei.

Schon bei der Pagode war ein Fünfganggetriebe erhältlich

Ein Fünfganggetriebe, damals seltene Option, tut not. Der brav säuselnde Sechszylinder aus der Heckflosse ist unter der Aluhaube der Pagode nicht wiederzuerkennen. Seine Konstrukteure haben ihn mit hoher Verdichtung und Saugrohreinspritzung zur Höchstleistung animiert, die das nur scheinbar antiquierte Pendelachsfahrwerk mühelos in Schach hält und die standfeste Bremsanlage sowieso. Die Pagode ist nämlich erstaunlich sportlich und erreicht problemlos hohe Kurvengeschwindigkeiten, lange bevor sich der kritische Grenzbereich abrupt meldet.

Steigt man von der Pagode in den direkten Nachfolger 350 SL um, erlebt man eine völlig andere Roadster-Welt. Der kleine Achtzylinder umschwärmt den Fahrer mit großartiger Laufkultur und hat mit seinen 200 PS stets genügend Kraftreserven. Sein Drehzahlniveau ist viel niedriger, meistens der OHC-Achtzylinder mit Automatikgetriebe gekoppelt, bei diesem frühen 71er Mercedes R107 im Champagner-Ton Sandbeige stehen noch vier Gänge zur Verfügung, die eine Flüssigkeits-Kupplung nicht immer ruckfrei über das weitreichende Drehzahlband des kurzhubigen drehfreudigen V8 verteilt. Unter dem Blech des 107ers versteckt sich das Fahrwerk des Strichacht, das bedeutet: Pendelachse ade, eine moderne Schräglenkerkonstruktion hält das Auto auch bei einer Vollbremsung oder in scharf gefahrenen Kurven in der Spur.

Der 107er ist eher wuchtig als filigran

„Nur der kurze Radstand sorgt“, so der auto motor und sport-Test in Heft 21/1971, „für eine gewisse Unruhe im Grenzbereich, die sich durch plötzliches Übersteuern mitteilt.“ Stilistisch zeigt der Mercedes R107 nicht mehr die verspielte Detailverliebtheit der Pagode. Zwar blieb der breite chromlächelnde Kühlergrill mit dem Zentralstern erhalten, aber der 350 SL klotzt mehr mit flächigen Formen, mit glasbausteinartigen Leuchten und mit geriffeltem Souterrain, was sehr gut mit den barocken Fuchs-Schmiederädern korrespondiert.

Die raffiniert geschnittenen Radläufe und eine fein gegliederte Frontpartie von unwiderstehlichem Charme machen den Mercedes R107 dennoch zur eleganten Erscheinung. Auch das Interieur des 107ers mag es lieber wuchtig statt filigran wie in der Pagode. Diese üppige Kunststoff-Wohnlandschaft der 70er braucht dringend Ledersitze als Upgrade, sonst fühlt man sich gleich wie im 200 W123. Es scheint so, als läge mehr als eine Generation zwischen 280 SL und 350 SL, die ziselierte Pagode wirkt auch innen so fein, so zierlich, am liebsten würde man sie mit spitzen Fingern fahren.

Die Pagode ist nicht gefährdet

Nicht nur die Marktpreise unterstützen den Ausnahmestatus der Pagode. Sie ist weit exklusiver und im Wesen weit mehr Klassiker als der Mercedes R107, dessen jüngere Facelift-Modelle noch im Youngtimer-Modus sind.

Fazit von Alf Cremers

Schon als Schüler fand ich den Mercedes 350 SL hinreißend, das auto motor und sport-Heft 21/1971 mit dem ersten Test habe ich noch heute. Wenn ein Mercedes R107, dann für mich bitte nur ein früher Achtzylinder in Metallicfarbe. Der 107er hat zwar nicht die formale Rasse einer Pagode, aber er fährt sich viel kultivierter. Den 129er finde ich souverän, aber ein wenig zu glatt.

Die Alternative: Mercedes-Benz R129

Der Mercedes R129 steht für eine neue Design-Ära. Wie seine Vorgänger Pagode und R107 spiegelt er perfekt den jeweiligen Zeitgeist des Mercedes-Stylings. Nach dem überdehnten Lebenszyklus des R107 musste der 129er stilistisch revolutionär ausfallen. Kein Chrom, glatte Flächen, aerodynamische Frontpartie, aber der typische SL-Grill blieb.

Die mit der S-Klasse W126 eingeläutete neue Sachlichkeit wird mit dem R129 konsequent fortgeschrieben. Das Topmodell Mercedes 600 SL brilliert sogar mit einem 394 PS starken Vierventil-V12. Innovativ sind der automatisch ausfahrbare Überrollbügel, das elektrohydraulische Verdeck und die Integralsitze mit vorbildlicher Gurtführung.

  • Mercedes 300 SL-24
  • Bauzeit: 1989 bis 93
  • Sechszylinder-DOHC-Motor, 2960 cm3, 231 PS, 228 km/h
  • Leergewicht: 1.780 kg
  • 25.456 Exemplare
  • Preis (Zustand 2): 12.000 Euro