Formel E São Paulo 2024

Sam Bird schockt die Konkurrenz

Das Chaos ist zurück in der Formel E. Nach drei recht ruhigen Läufen wiederholte sich in São Paulo das hektische Racing des Vorjahres. Sam Bird (McLaren-Nissan) stoppte in den letzten Kurven den zweiten Brasilien-Erfolg von Mitch Evans (Jaguar). Porsche wurde von einem Underdog überrumpelt.

Formel E - São Paulo 2024 - Sam Bird - McLaren-Nissan Foto: Motorsport Images

Es gab nie Zweifel daran, dass spätestens im vierten Rennen der Saison 2024 reichlich Action geboten werden sollte. Der Kurs durch das Sambódromo do Anhembi bringt alles mit, was es für (über)harten Formel-E-Sport braucht: lange Geraden, ordentliche Bremszonen und Kurven mit genügend Raum. Extra Würze streute die FIA hinein, welche die verfügbare Energiemenge von 40 auf 38,5 kWh reduzierte. Extremes Sparen und automobile Rudelbildung waren so unumgänglich.

Die Freude am freien Fahren stellte sich bei den meisten Piloten so nur in der Qualifikation ein. Bereits vor den ersten schnellen Runden hatte Maximilian Günther (Maserati-DS) jedoch einen massiven Rucksack aufgebürdet bekommen. Der Wechsel des Getriebes und des Inverters bedeutete eine Strafversetzung um 40 Plätze. Durch das nicht volle Inkrafttreten kamen weitere zehn Strafsekunden im Rennen dazu.

Formel E - São Paulo 2024 - Impression Foto: Motorsport Images

Angesichts ihrer für Formel-E-Verhältnisse langen Geraden gilt die Strecke am Ufer des Rio Tietê als Action-Hotspot.

0,002 Sekunden entscheiden über Pole

Trotzdem überzeugte der Deutsche mit einem Sprung in die K.o.-Phase, in deren Viertelfinale er Bird schlug. Außerdem konnten sich das DS-Duo Stoffel Vandoorne sowie Jean-Éric Vergne, Mitch Evans, Edoardo Mortara (Mahindra), Pascal Wehrlein (Porsche) und überraschend Nico Müller (Abt-Mahindra) für die Duelle qualifizieren. Müller hatte allerdings spät in der Gruppenphase einen unheilvollen Mauerkontakt gehabt. Die Folge war sein vorzeitiges Aus.

Auf eine Runde schienen die DS-Antriebe unschlagbar zu sein. Nur Wehrlein konnte Paroli bieten und zog sogar gegen Günther in das Finale ein. Dort traf er in Form von Vandoorne auf den Pole-Setter des Vorjahres nach dessen Sieg über Vergne. Im direkten Vergleich hatte Vandoorne zuvor schneller gewirkt, dazu hatte er mehr Abkühlzeit. Schlussendlich war Wehrlein doch unvorstellbare zwei Tausendstel fixer.

Der Porsche-Pilot startete so vor den beiden schwarz-goldenen DS, Evans und Bird in den vierten Lauf. Tabellenführer Nick Cassidy (Jaguar) rangierte auf dem neunten Rang. Der Samstag von São Paulo begann so mit wichtigen Zählern für die Wehrleinsche Aufholjagd. Weil obendrauf António Félix da Costa (Porsche) genau vor Cassidy lag, besaß Porsche zwei taktische Trümpfe gegen Jaguar. Weltmeister Jake Dennis (Andretti-Porsche) rundete die Top 10 ab.

Formel E - São Paulo 2024 - Start - Pascal Wehrlein - Porsche Foto: Motorsport Images

Nach einer starken Qualifikation hoffte Pascal Wehrlein auf weitere "Big Points" in der WM-Aufholjagd.

Attack-Modes würfeln Halbzeit eins durch

Während Günthers Nachmittag durch die unvermeidbare Zehn-Sekunden-Stop-and-Go-Strafe noch herausfordernder als eh schon wurde, ging es an der Spitze rund. Verbunden mit dem Chaos-Faktor Aktivierungsschleifen gab es diverse Verschiebungen. Unter anderem bogen die Führenden Wehrlein und Vandoorne in der dritten Runde für eröffnende zwei Minuten ab. So grüßte erstmals Bird von der Spitze. Kurz nach dessen Aufnahme eines zweiminütigen Boosts wurde die erste Neutralisierung nötig.

Im Anschluss an die Bergung einer Andretti-Front hatte die Hektik wieder freie Bahn. Bis zur Halbzeit des ursprünglich 31 Runden langen Rennens wurden genau die harten Bandagen ausgepackt, die in Mexiko und Saudi-Arabien noch gefehlt hatten. Besonders oft präsentierten sich Abt-Racer und ihre deformierten Fronten im TV-Bild. Teamchef Thomas Biermaier war womöglich froh, das teure "Spektakel" nach einer Knie-OP nur von der heimischen Couch aus verfolgen zu müssen.

Als sich die Attack-Mode-Strategien des Großteils so langsam aussortierten, krachte es plötzlich massiv. Der WM-Führende Cassidy kratzte ohne rechtes Hinterrad rauchend die Mauer entlang. Zuvor hatte sich der Rest seiner Front unter dem Auto verkeilt und ihn in die Begrenzung geschoben. Glücklicherweise blieb der Neuseeländer unverletzt. Sein Fokus wanderte schnell zum nächsten Rennen in Tokio (30. März), wo er viele Lebensjahre verbracht hatte.

Formel E - São Paulo 2024 - Maximilian Günther - Maserati-DS Foto: Motorsport Images

Eine doppelte Strafe hielt Maximilian Günther länger am Ende des Feldes. Doch der Deutsche in Maserati-Diensten hatte Großes für die Aufholjagd vor.

Evans vor zweitem São-Paulo-Sieg

Im Cockpit des führenden McLaren-Nissan kochte die Stimmung hinter dem anschließenden Safety Car hoch. Bird schimpfte über den trödelnden Evans: "Der lässt zu viel Abstand, das ist ganz klar eine Strafe." Die wahrscheinlich eh zu beschäftigte Rennleitung ließ sich auf die beiden Spielchen der früheren Jaguar-Kollegen allerdings nicht ein. Komplettiert wurde die Top 5 beim Restart durch Pascal Wehrlein, Jake Dennis und António Félix da Costa. Maximilian Günther lag auf einem herausragenden neunten Platz.

Entgegen den Erwartungen brach beim Neustart zu Beginn der 20. Runde kein übergroßes Chaos aus, stattdessen wurde sich bei der Energie auf die Verlängerung vorbereitet. Bird, der seit 36 Rennen auf einen Sieg wartete, hielt lange Evans hinter sich. Dieser wiederum nervte Wehrlein von Runde zu Runde mehr durch das Spar-Bummeln.

Mit der drei Umläufe umfassenden Overtime in Aussicht stieg die Dringlichkeit zügig an. Erst konnte Mitch Evans einen Weg an Bird vorbei finden, dann knackte der Kunde Dennis den Werksfahrer Wehrlein. Zwischen dem Führungsduo und den Verfolgern brach sogar eine Lücke auf, die einen Dreikampf um den Sieg wie 2023 verhinderte. In beiden Kampfpaketen war das letzte Kilowatt aber noch nicht verbraucht.

Formel E - São Paulo 2024 - Sam Bird - McLaren-Nissan - Mitch Evans - Jaguar Foto: Motorsport Images

Nicht nur der Platz an der Spitze war hart umkämpft, dahinter mischte Nissan-Fahrer Oliver Rowland die Porsche-Jungs auf.

Bird schlägt rechtzeitig zurück

Obwohl Sam Bird mehrfach dazu angehalten wurde, sein Auto außerhalb des Windschattens zu kühlen, gab er nicht auf. Mit beschwichtigenden Worten an den Renningenieur und einem häufig weit genug versetzten McLaren blieb er am Jaguar dran. Evans ließ ihm schließlich genügend Raum in den letzten Kurven, um eine verzweifelte Attacke zu ermöglichen.

Bird sammelte all seine Erfahrung und schaffte tatsächlich kurz vor knapp außen den Sprung an die brasilianische Sommer-Sonne. Die McLaren-Box, die zu großen Teilen noch aus Mercedes-Personal besteht, mutierte zum Mini-Sambódromo. Ihr erster oranger Sieger richtete ihr sinngemäß aus: "Nicht schlecht für einen alten Herren, oder?" Evans gönnte es seinem ehemaligen, stets fair gebliebenen Kollegen, "dem Orange ja doch steht."

Parallel zum Fight um den Sieg sah die letzte Stufe des Podiums ebenfalls furiose Action. Die eh nicht in Freundschaft verbundenen Pascal Wehrlein und Jake Dennis bekämpften sich beim Abbiegen auf Start-Ziel derart rücksichtslos, dass Oliver Rowland (Nissan) vorbeischlüpfen konnte. Wo kam der denn her? Startrang elf! Ebenfalls happy: Maxi Günther. "Wir haben heute das Unmögliche möglich gemacht. Das erste Safety Car war entscheidend dafür, Platz neun fühlt sich super an." Unzufrieden war man derweil bei Porsche. Formel-E-Gesamtprojektleiter Florian Modlinger hält simpel fest: "Heute war deutlich mehr drin."

Immerhin rahmten Wehrlein und da Costa abschließend Dennis ein. Dahinter sammelten die DS-Fahrer Vergne und Vandoorne weiter fleißig Punkte. Sébastien Buemis zehnter Rang rettete nicht wirklich ein mieses Wochenende von Envision-Jaguar.

Formel E - São Paulo 2024 - McLaren-Nissan Foto: Motorsport Images

Meistermacher: McLaren ist die Nachfolgemannschaft des Mercedes-Teams. Kann der erste Sieg den Weg in Richtung einer Titel-Saison ebnen?

Weiter Doppelführung für Jaguar

Auch wenn die Briten zwei – mal mehr, mal weniger – üble Nackenschläge hinnehmen mussten, bleibt Jaguars Ausgangslage positiv. Bei den Fahrern liegt immer noch Nick Cassidy mit 57 Zählern in Führung. Dahinter folgen Pascal Wehrlein (53) und die punktgleichen Mitch Evans und Jean-Éric Vergne (jeweils 39). Nur knapp dahinter positionieren sich Jake Dennis (38) und Sam Bird (37).

In der Team-Wertung hingegen hat Jaguar ein solides Polster dank 96 Zählern. Porsche (61), DS Penske (57), McLaren-Nissan (55) und Andretti-Porsche (47) werden in der Vorbereitung auf Japan größere Hausaufgaben erledigen müssen. Die erst in dieser Woche final vorgestellte Hersteller-Wertung ist noch nicht öffentlich präsentiert, aber sieht ebenfalls das Duell Jaguar (123) vs. Porsche (95) an der Spitze.

Auf dem neuen Kurs von Tokio wird eine Fortsetzung erwartet. Erste Simulatorfahrten bestätigten, dass er abschnittsweise an London erinnern soll. Auch seine 2,582 Kilometer schlängeln sich durch ein Messegelände – jedoch immer im Tageslicht der Mega-Metropole. Fragt sich nur, welche Art von Unterhaltung am Morgen des Karsamstags dort wieder zu sehen sein wird.