Nio ET5 im Fahrbericht

Mit 100 kWh-Akku gegen das Model 3

Mit tauschbaren Batterien und umfangreichen Sensorikarsenal greift Nio mit dem ET5 nun auch in der Mittelklasse an.

Nio ET5 Foto: Nio 18 Bilder

Gerade einmal zwei Monate nach dem Debüt des großen SUV EL7 schiebt Nio mit dem ET5 das nächste Modell in den Markt. Diesmal im Visier: Niemand geringeres als das Tesla Model 3, dem der ET5 in der elektrischen Mittelklasse das Leben schwer machen will. Mit 4,79 Metern Länge ist der ET5 am oberen Ende des Segments angesiedelt und kommt ausschließlich als Zwei-Motor-Variante mit einem 150 kW starken Asynchron-Motor vorn und einem 210 kW starken Permanentmagnet-Synchronmotor an der Hinterachse. Wie bei allen Nio-Modellen stehen zwei Batterievarianten mit 75 oder stattlichen 100 Kilowattstunden Kapazität zur Wahl.

Beschleunigen? Kann er!

Nio ET5 Foto: Nio
Mit 360 Kilowatt beschleunigt der ET5 in nur vier Sekunden auf 100 km/h.

4,0 Sekunden verspricht Nio für den Standardsprint und huiuiui, die glaubt man ihm gern. Die vollen 489 PS liegen erst im Sport-Plus-Modus an, in Komfort, Eco und Sport geht es deutlich gesitteter voran. Traktionsprobleme kennt die allradgetrieben-Fließhecklimousine nicht und stürmt in Elektroauto typischer Mächtigkeit nach vorn. Allerdings wirkt die Strompedal-Applikation im schnellsten Modus seltsam eckig, fast wie ein An-Aus-Knopf. Zwischen idyllischem Watt(en)meer und Stromschnelle liegen nur Millimeter Pedalweg. In Komfort und Sport wirkt die Abstimmung deutlich harmonischer. Auch sonst lässt der Nio ET5 auf der Straße schnell den Wunsch nach etwas mehr Finesse bei der Abstimmung aufkommen. Zwar geriet die Dämmung gegen Wind- und Antriebsgeräusche hervorragend und kleinere Unebenheiten werden vom Fahrwerk noch recht souverän pariert, gröbere Unebenheiten überrumpelt er hingegen recht unsanft und lautstark.

Im Gegensatz zu den luftgefederten großen Brüdern ET7 und EL7 kommen im ET5 klassische Stahlfedern auf herkömmlichen, starren Dämpfern zum Einsatz. Legt Nio den Fokus also verstärkt auf Dynamik? Immerhin wartet der 2150 Kilogramm schwere Wagen mit einer perfekten 50-zu-50-Prozent-Gewichtsverteilung auf. Angesichts der wenig präzisen, gefühlstauben Lenkung und dem früh ins Untersteuern schubbernden Vorderwagen wohl eher nicht. Die Antriebsregelung verteilt die Kräfte recht stumpf und wenig dynamisch oder neutralisierend zwischen den Achsen, was zu ausgeprägten Leistungsuntersteuern am Kurvenausgang und schnell zu gefährlichen Konflikten mit dem Gegenverkehr führen kann, da das ESP in dieser Situation nicht eingreift. Positiv hingegen: die saubere Überblendung von Rekuperation und hydraulischer Bremse.

Luft nach oben

Nio ET5 Foto: Nio
Der Geräuschkomfort überzeugt, die Dämpfer könnten jedoch etwas feiner ansprechen.

Auch beim teilautonomen Fahren lässt der ET5 reichlich Luft nach oben. Zwar ist die Hardware mit den insgesamt 33 Sensoren, darunter Langstrecken-LiDar, elf hochauflösende Kameras, mehrere Radare, 12 Ultraschallsensoren und dem alles vernetzenden Hochleistungsrechner ADAM vom Allerfeinsten, nur nützt die beste Hardware nichts, wenn die Software und die Applikation das immense Potenzial der Systeme nicht auf die Straße bringen. Zwischen den Fahrbahnlinien pendelt der ET5 bei aktiviertem Fahr-Assistenten "Pilot" immer leicht hin und her und selbst die von Nio ausgewiesene Rechenpower von umgerechnet 100 PS5-Konsolen retten ihn nicht davor, dass es auf der Testfahrt im Pilot-Modus fast zur Kollision mit einer Verkehrsinsel kommt, die scheinbar kein einziger Sensor zu erkennen vermag.

Ebenfalls verbesserungsbedürftig: Die Übergabe der Fahrzeugkontrolle zurück an den Fahrer geschieht ohne Vorwarnung. So verlor das System einmal die Übersicht in einer langgezogenen Linkskurve, gab die Kontrolle ohne Vorwarnung ab und nahm im gleichen Zug auch den Lenkbefehl zurück, was schnelles Eingreifen erforderte. Hinzu kommt noch die ständigen Warn- und Aktivierungstöne der Systeme, die sich nicht alle ohne vollständiges Abschalten eines Assistenzsystems deaktivieren lassen.

Zurückhaltendere Nomi

Nio ET5 Foto: Nio
Der sehr natürlich sprechende KI-Assistent Nomi Mate kostet beim ET5 600 Euro Aufpreis.

Immerhin ist Nomi Mate, der knubbelige Emoji-Sprachassistent, im Vergleich zu den bisher gefahrenen Modellen und Softwareständen deutlich zurückhaltender. Außerdem kostet er nun 600 Euro Aufpreis und macht in der Serienausstattung Platz für Nomi Halo. Der neue Sprachassistent soll zurückhaltender agieren und kommt auch ohne Emoji-Gesicht aus. Jedoch trug der Testwagen Nomi Mate auf dem Armaturenbrett, so dass ein erster Eindruck von Nomi Halo noch auf sich warten lässt.

Das hübsche Interieur bekam im Vergleich zu EL7 und ET7 etwas mehr Hartplastik im unteren Türbereich und auch die wohnlichen Rattan-Ziereinlagen fehlen. Trotzdem ist das Cockpit großzügig mit einer weichen Lederalternative ausgekleidet und fein säuberlich verarbeitet. Helle Recyclingstoffe umhüllen die oberen Türlautsprecher, des insgesamt 23 Lautsprecher umfassenden und 1000 Watt starken Dolby-Atmos-Soundsystems.

Hochwertiges Cockpit

Nio ET5 Foto: Nio
Die Bedienung des gestochen scharf auflösenden Zentraltouchscreens ist recht kleinteilig und ablenkend.

Die Displays stellen brillant und ruckfrei dar, nur für die Bedienung muss man ordentlich Eingewöhnungszeit einplanen. So gut wie alle Funktionen werden über den zentralen Touchscreen gesteuert, selbst Scheinwerfer und Lenkradposition. Ein Wisch von links holt eine Reihe Shortcuts ins Bild. Nomi versteht ebenfalls einige Befehle für Fahrzeugfunktionen und Navigationsziele nun zuverlässiger als in vorigen Nio-Testwagen. Trotzdem bleibt die Nutzung des Touchscreens mit seinen kleinen Bedienflächen sehr ablenkend. Positiv: Die Laderoutenplanung gelingt auf Anhieb.

Auf ein Head-up-Display verzichtet Nio zugunsten eines kleinen Tachodisplays, das zwar übersichtlich Informationen anzeigt, jedoch über die Reichweite nur auf WLTP-Basis informiert, was im Alltag wenig hilfreich ist. Trotzdem versprüht das Interieur mit seinen bequemen, optional 14-Fach elektrisch verstellbaren Sitzen mit Massage- und Lüftungsfunktion (1.500 Euro), in schwarzen Mikrofaserstoff gehüllten Dachhimmel und den Soft-Close-Türen das Gefühl von modernem, nicht zu dick aufgetragenem Luxus.

Die Sitzposition mutet aufgrund der niedrigen Fronthaube etwas hoch an, ist ergonomisch aufgrund weiter Verstellwege von Lenkrad und Sitz aber sehr gut. Eine Reihe weiter hinten dagegen wird es mit dem Anlehnen an der Kopfstütze für Personen größer 1,80 Meter schon schwerer. Die Kniefreiheit ist zwar üppig, aber wie bei vielen E-Limos sorgt der Akku im Boden für einen sehr steilen Kniewinkel. Ausbaufähig: Das Kofferraumvolumen von 389 Litern. Einen Frunk oder ein Unterflurfach für die Kabel fehlt ebenfalls. Die in 60-40-Teilung klappbare Rückbank erhöht das Ladevolumen deutlich. Noch mehr Transportkapazität bietet die 1.200 Euro teure, elektrisch ausklappbare Anhängerkupplung, mit der der ET5 bis zu 1400 Kilogramm ziehen oder 75 Kilogramm stützen darf.

Wie so oft dürfte im Gespannbetrieb selbst der große 100 kWh-Akku für nicht allzu üppige Reichweiten sorgen. Ohne Anhängsel gibt Nio bis zu 456 Kilometer für die kleine und bis zu 590 Kilometer nach WLTP für die große Batterie an. Im Vergleich mit einem Tesla Model 3 Long Range, oder einem BMW i4 40e, die schon mit 75 bzw. 81 Kilowattstunden Kapazität auf rund 600 Kilometer kommen, dürfte die Effizienz trotz eines ordentlichen cw-Werts von 0,24 nicht auf allerhöchstem Niveau liegen.

Nur wer mietet, darf wechseln

Nio ET5 Foto: Nio
Bis Ende 2023 soll das noch sehr dünne Netz der Nio-Batteriewechsel-Stationen auf 70 Einheiten anwachsen.

Der Preis von 47.500 Euro lässt aufhorchen, liegt er doch mit netto 39.915 Euro hauchdünn im Rahmen der vollen BAFA-Förderung. Der Haken: wie bei anderen Nios auch, muss der Akku zusätzlich gemietet oder erworben werden. Das kostet 169 (75 kWh) oder 289 Euro (100 kWh) pro Monat oder einmalig 12.000 bzw. 21.000 Euro. Die Batteriemiete dürfte jedoch die bessere Option sein, da nur so der Zugang zu den Batteriewechselstationen gewährt wird. Davon gibt es zwar aktuell nur drei in Deutschland, aber bis Ende des Jahres soll das Europa-Netz auf immerhin 70 Stationen anwachsen. Daher muss man sich auch mit dem Ladetempo des ET5 arrangieren, dass mit einer Ladezeit von 10 bis 80 Prozent SOC von 30 Minuten bei der kleinen Batterie auf ordentlichem, bei 40 Minuten für die größere Batterie auf eher unterdurchschnittlichem Niveau liegt. Ansonsten bietet sich noch die Option auf ein Abonnement, dass aktuell bei einer Laufzeit von 36 Monaten bei 999 Euro pro Monat für die 75 kWh-Variante startet.