Reportage über den Ford Sierra 2.0i GL

Ford Cosworth für Arme

Sportiver Doppelnockenwellenmotor, schlichtes Stufenheck, 120 PS für 500 Euro. Ich habe meinen Roten Cossie getauft, weil er mich an den Sierra Cosworth erinnert.

Ford Sierra 2.0i GL, Exterieur Foto: Ingolf Pompe 12 Bilder

Es ist keine Liebe auf den ersten Blick. Ich finde einen Ford Sierra zwar ganz nett, weil er Hinterradantrieb hat und die bürgerliche Mittelklasse verkörpert. Aber er ist keine Schönheit, für die ich leidenschaftlich brenne. Kein Kühlergrill, weiche Formen, qualitativ dünnwandig, aber brav und gutmütig. Eine Vernunftbeziehung kann es auch nicht werden, denn ich brauche im Grunde kein weiteres Auto, könnte ich doch an jedem Wochentag einen anderen Youngtimer fahren.

Es ist etwas anderes, was mich packt, die Abenteuerlust nach den vielen sedierenden Feiertagen um die Jahreswende. Das Verlangen, rauszuwollen, auch bei Wind und Wetter, bei Eis und Schnee, es lässt sich nicht niederringen. Wieder einmal flüchte ich mich in meinen Mercedes 300 E, den treuen rauchsilbernen, und klappere die Kiesplätze ab, bin auf meinem Dirty Trail längs von A 8 und A 9 zwischen Augsburg, Ingolstadt und München. Andere fahren ins Spielkasino, ich ziehe mir 500 Euro, Einsatz und absolutes Limit für den unvernünftigen Kauf.

Ein Lastenheft für mein kommendes Auto gibt es nicht. Nur ein paar vage Vorstellungen: Baujahr bis 1995, Leistung ab 75 PS, kein Kleinwagen, das Auto komplett und nicht unfallbeschädigt, fahrbereit und unbedingt mit Winterreifen ausgerüstet. Es muss jede Polizeikontrolle bestehen, schon ein dröhnender Auspuff wäre mir zu viel. Ein guter Ford Sierra könnte diese Anforderungen glatt erfüllen, cosmosblau-metallic sollte er sein, er ginge nur als Stufenheck-Limousine, und er müsste unbedingt diesen tollen DOHC-Motor mit 120 PS unter der Haube haben.

Die erste eingefrorene Kiesplatzkolonie fördert in meinem Preissegment Citroën AX, Peugeot 106, Skoda Favorit und Seat Toledo zutage, bunt schimmern sie gegen die weißen Schneehauben an, die sie größtenteils bedecken. Die zweite "Auto-Welt", ein überzuckertes Containerdorf mit Messeparkplatz und grell leuchtenden "Import"-/"Export"-Schildern, hat immerhin zwei potenzielle Kandidaten für mich, den dürstenden Verbrauchtwagen-Junkie, der als ewig Suchender nicht müde wird, mobiles Altmetall zu Liebhaberautos hochzustilisieren, und dabei ehrlich ist, weil er selbst daran glaubt. Ein sterlingsilberner BMW 318i Automatik der Baureihe E36 für sage und schreibe 375 Euro hat es mir sehr schnell, sehr intensiv angetan.

Ford Sierra 2.0i GL, Exterieur Foto: Ingolf Pompe
Ein kleiner Cossie, denke ich mir, sportlicher Doppelnockenwellenmotor, schlichtes Stufenheck, also die pure Koketterie mit dem Unscheinbaren.

Ich bin auf dieser Wintertour mit Eiskratzer und Handfeger ausgerüstet, um die Preisschilder hinter den Windschutzscheiben entziffern zu können. Beim BMW sehe ich dahinter noch appetitliche Velourspolster und ein lederbezogenes Lenkrad, originale Aluräder runden den guten ersten Eindruck ab. Leider ist der Container nicht besetzt, frustriert mache ich ein paar Smartphone-Fotos von der glänzenden Schneehaube, die mein Verlangen weckte. Arbeite mich durch ein paar Autoreihen anonymen Blechs weiter vor zum nächsten attraktiven 3er, der den Unerreichbaren schnell vergessen lässt. Es ist ein 97er 316i Compact, natürlich E36, in sehr verführerischem Alaskablau-Metallic, sein Zustand zwischen zwei Schneewehen, die an seinen Flanken kleben, scheint gut und original, ein paar Rostblasen am rechten Kotflügel sind genauso wenig ein Hinderungsgrund wie die 252.000 km auf dem handgeschriebenen Preisschild, das mit einer großen, doppelt unterstrichenen "250" im Euro-Feld unten rechts endet.

Eine Zahl, die mich nachhaltig elektrisiert und mir schlagartig meinen alpinweißen BMW 316i E36 in Erinnerung ruft, auch ein unvernünftiger Kauf, der zu Hause in der Tiefgarage schon lange auf mich wartet. Außerdem ist so ein 3er Compact ein Frauenauto. Kenner sehen in ihm die Fortsetzung des hochverehrten 3er E30, dessen Fahrwerk und Cockpit er auftragen durfte.

Roter Sierra im Schnee

Hasenheide heißt ein Industriegebiet in der Nähe des Militärflugplatzes Fürstenfeldbruck. Auch hier siedelt inmitten von Kleingewerbe eine Kiesplatz-Enklave türkischer Händler, die sich bei meinen investigativen Gebrauchtwagenbegehungen bislang stets unterhaltsam und voller spannender Überraschungen zeigte. Auch heute hält sie wieder, was sie verspricht. Der frisch gefallene Schnee versteckt einen knallroten Ford Sierra fast bis zur Unkenntlichkeit, es reicht aber nicht ganz, ich erkenne ihn trotzdem auf Anhieb und identifiziere ihn vorerst als potenzielles Wunschobjekt, weil es die Stufenheck-Limousine ist. Mein Jagdinstinkt ist geweckt, ich fühle mich unbeobachtet.

Voller Eifer lege ich mit dem Handfeger den leicht abgenutzten Heckschriftzug frei: "Sierra 2.0i GL" prangt dort, was zweideutig ist, denn der spanischrote Wagen kann sowohl den 100-PS-OHC-Motor als auch das weit hochkarätigere Doppelnockenwellen-Triebwerk mit 120 PS unter der tief heruntergezogenen Haube haben.

Das Rot ist ziemlich ausgekreidet, nur wenn der nasse Schnee drüberwischt, glänzt es. Leider gibt es hinter der Frontscheibe kein Preisschild, doch über einer japanisch anmutenden Hütte dampft es, ich sehe den Schein einer Schreibtischlampe. Eine Spur zu entschlossen öffne ich die Schiebetür. Den Händler bringt es nicht aus der Ruhe. "Der rote Sierra da drüben, wie teuer ist der?", frage ich in unbeholfenem Stakkato und füge noch an: "Welchen Motor hat der? 74 kW oder 88 kW?"

Ford Sierra 2.0i GL, Interieur Foto: Ingolf Pompe
Der obligatorische Wunderbaum, diesmal von der Sorte "Grüner Apfel", dient nur als Farbtupfer im hellgrauen Sierra-Ambiente.

Seelenruhig blättert sich der Händler, er heißt Sadettin Yalcin, wie ich später beim Unterschreiben des Kaufvertrags erfahre, vor- und rückwärts durch seinen Fahrzeugbrief-Ordner und murmelt unter dem Rauch seiner Zigarette: "Fünfhundertfünfzig Euro kostet er mit H-Kennzeichen im September." Kaum zu glauben: Dieser Sierra wird bald 30 Jahre alt sein, aber es war doch erst vorgestern, als mein Onkel Johannes seine silberne 75-PS-Stufe beim Ford-Händler Walter Coenen in Mönchengladbach in Empfang nahm.

Yalcin schiebt mir den Brief wortlos rüber, Leistung 88 kW – also 120 PS – steht da, Höchstgeschwindigkeit 190 km/h. Ein kleiner Cossie, denke ich mir, sportlicher Doppelnockenwellenmotor, schlichtes Stufenheck, also die pure Koketterie mit dem Unscheinbaren. Wenn nur dieses knallige Spanischrot nicht wäre, an das ich mich erst gewöhnen muss. Aber immerhin passt es gut zu den grün getönten Scheiben des GL-Modells. Yalcin wittert meine trunkene Begierde nach dem H-Kennzeichen-reifen Schnäppchen. Gemeinsam und mit großem Eifer ziehen wir das volle Bergungs- und Wiederbelebungsprogramm der bislang verschmähten roten Standuhr durch. Es braucht eben ein Trüffelschwein wie mich, um eine solche Perle im Kies zu finden. Übermütig fege ich den Sierra, Pardon, meinen Cossie, im Rekordtempo frei mit buntem Besen, der Fotograf besorgt unterdessen Benzin und eine neue Batterie, Tank und Akkumulator sind so was von leer, dass der muntere Motor keine Chance hat, freudig zu erwachen.

Am Ende tut er das, und die Formalitäten mit der Parole "Fünfhundert glatt" sind in Yalcins Holzhütte in Windeseile nach einer ausgiebigen Probefahrt erledigt. Ich moniere neben einer beginnenden Durchrostung am hinteren Schwellerende, die mir beim Reifenaufpumpen auffiel, lediglich ein wummerndes Geräusch samt Unwucht aus dem Antrieb zwischen 2.500 und 3.000/min, vielleicht ist es eine versprödete Hardyscheibe im Kardangelenk, es klingt nicht bedrohlich. Der auch optisch sehr attraktive Motor läuft trotz seiner 187.000 km wie von mir erwartet. Sattes Drehmoment und eine ausgeprägte Drehfreude zeichnen ihn aus. Es gibt keine Auffälligkeiten hinsichtlich Geräusch und Temperatur. Zusammen mit dem butterweich zu schaltenden und in Ford-Kreisen legendären MT-75-Fünfganggetriebe, dessen Rückwärtsgang sogar synchronisiert ist, bildet er eine harmonische Antriebseinheit, die Freude macht.

Ford Sierra 2.0i GL, Exterieur Foto: Ingolf Pompe
Voller Eifer lege ich mit dem Handfeger den leicht abgenutzten Heckschriftzug frei: "Sierra 2.0i GL" prangt dort

Wer glaubt, der Sierra sei eine reizlose Großserienschüssel, wird hinter dem Lenkrad eines Besseren belehrt. Denn auch das Fahrwerk mit vorderer McPherson- und hinterer Schräglenkerachse ist konstruktiv auf dem Niveau eines BMW 3er der E30-Serie. Es kann vieles, handlich lenken, komfortabel federn und mit weitgehend neutralem Eigenlenkverhalten hohe Kurvengeschwindigkeiten parieren. Welche Reserven im Sierra stecken, beweist der Cosworth 4x4 mit 220 PS, ein wahrhaftiger Wolf im Schafspelz mit vehementen M3-Fahrleistungen und spießiger Stufenheck-Karosserie.

Aluräder wirken Wunder

Doch mein Cossie wird heute beileibe nicht gefordert, wir machen es uns im mittleren Drehzahlbereich auf der Landstraße gemütlich. Auch das Interieur lädt dazu ein, es ist sehr gepflegt und dank der GL-Ausstattung auch behaglich, der obligatorische Wunderbaum, diesmal von der Sorte "Grüner Apfel", dient nur als Farbtupfer im hellgrauen Sierra-Ambiente.

Während ich so lenk und denk an mein bescheidenes, kleines Sierra-Glück, da möchte ich ihm doch mehr Konturenschärfe in Richtung Cossie geben. Ich denke an 14-Zoll-Ford-Aluräder statt dieser müden Stahlfelgen, vielleicht sogar welche im RS-Design. Ich werde ihm diese albernen Opa-Spritzlappen bei nächster Gelegenheit entreißen. Und ich halte es sogar für möglich, dass ich ihm die Ghia-Embleme auf den Kotflügeln verleihe, einfach so, weil ich ihn mag.